Alt Lubönen/Dorfleben

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Wappen der Stadt Ragnit

Alt Lubönen

Bericht von Hans Gudjons,
geboren in Alt Lubönen, später wohnhaft in Gelnhausen
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Hans Gudjons im Jahre 1917


Dorfleben in früherer Zeit

Hans Gudjons (1875 bis 1958) aus Alt Lubönen hat im Mai 1951 einen langen Brief an die Tochter seines Vetters Heinrich Szagarus geschrieben. Bei der Abschrift des in einer wunderbaren Sütterlin-Handschrift verfassten Berichtes (das Original ist bis heute erhalten), hat die Szagarus-Tochter einige Einfügungen vorgenommen, die durch Kursiv-Schrift gekennzeichnet sind. Ein Bild vom Elternhaus des Hans Gudjons kann man auf der Ansichtskarte ganz oben/rechts sehen.

Hans Gudjons aus Alt Lubönen als Leiter der Postüberwachungsstelle in Schaulen, 1915)

Szagarus-Familie

“Eine feste und bestimmte Erinnerung an Deinen Großvater Jons Szagarus habe ich nicht. Von meinen Eltern und Nachbarn aber habe ich oft gehört, dass er kräftig und wohlbeleibt war und von besonders gesundem Aussehen. Oft hörte ich über ihn die Bemerkung rodauns kaip puttins, d.h. ’das Gesicht so rot wie des Puters Kamm’ (raudonas = rot: kaip = wie, gleich: puttins = Truthahn).

Während einer Korn-Aust (Erntezeit im August), im Jahre 1877 starb Jons Szagarus ganz plötzlich im Alter von erst 36 Jahren. Er hatte den ganzen Tag in der sommerlichen Hitze auf den Memelwiesen das Korn mit der Sense gehauen und kam erschöpft und durstig auf seinen Hof zurück, ging zum Brunnen und trank viel von dem eiskalten Wasser. Danach bekam er eine Lungenentzündung, die ihn nach wenigen Tagen hinwegraffte.

Maryke (Maricke), seine Frau, blieb mit fünf kleinen Söhnen zurück: Johann, Georg, Christoph, Fritz und Heinrich (dieser Heinrich war unser Vater). Großmutter Maryke (geb. 24. Dezember 1846) konnte den Hof mit den fünf Kindern allein nicht bewirtschaften und heiratete bald ein zweites Mal, und zwar einen Paulat von der litauischen Memelseite. Aus der zweiten Ehe entstammten zwei Kinder, Ensys (Hans, der unserem Vater ähnlich sah, und den wir Mädels auch kannten), während das zweite Kind, ebenfalls ein Junge, bei der Geburt zusammen mit der Mutter verstarb. Maryke wurde vom Kindbettfieber dahingerafft, sie überlebte Jons, ihren ersten Mann, nur um etwa vier Jahre.

Eure Großmutter Maryke habe ich wohl deshalb noch im Gedächtnis, obwohl ich bei ihrem Heimgang wohl erst fünf Jahre alt gewesen bin, weil sie mich öfter bei Jungenstreichen erwischte. Da waren nämlich in ihrem Garten große und süße Birnen und ein Holzapfelbaum, der alle Jungen anlockte. Wohl deshalb fürchtete ich die große Brille der Tante sehr, weil man ihre Augen nicht sehen konnte, und wenn sie schalt, und dazu hatte sie Veranlassung genug, klang ihre starke Stimme besonders furchteinflößend.

Ich habe Eure Großmutter Maryke gut in Erinnerung: Sie war von großem und starken Körperbau, breitschultrig, und sie trug in den letzten Jahren immer eine große blaue Brille. Sie hatte ein entschiedenes Auftreten, sehr selbstbewußt, und war schnell entschlossen. Die Figur und zum Teil auch das Gesicht zeigten Tante Marie Radtke (eine Schwester von Onkel Hans Gudjons. Anmerkung von Bernhard Waldmann: Die hier erwähnte Marie Radtke, geb. Gudjons, ist meine Großmutter).

Eine kleine Episode mag das Bild vervollständigen. Es war Herbst. Die Männer droschen das Korn aus. Sechs Drescher. Maryke hatte das Frühstück bereitet und ging in die Scheune. Sie wollte die Männer herbeirufen, schaute zuvor aber den Kornhaufen an und meinte, dass er noch recht klein sei. Das ärgerte natürlich die Drescher, und zwei von ihnen spotteten über Maryke und behaupteten, wenn es sechs Weiber gewesen wären, wäre der Haufen noch viel kleiner. Denn Frauen seien ja so schwach wie Katzen.

Da ergriff Eure Großmutter Maryke stillschweigend die beiden Schreier, drückte eines jeden Kopf und Nacken unter ihre Arme und trug sie so aus der Scheune heraus. Die Männer zappelten und schrien, konnten sich aber nicht aus den Armen der kräftigen Frau befreien. Draußen drückte Maryke die beiden Kerls in den Strohhaufen und fragte, ob schwache Katzen so etwas auch könnten. Diese Geschichte hat mir meine Schwester Marie Radtke erzählt. Daraus ersieht man, dass Eure Großmutter Maryke eine ungewöhnlich starke Frau war, so recht eine ostpreußische ‘Brunhilde’.

(Hierzu noch eine Eigenart, die uns unsere Tanten Szagarus, Cousinen unseres Vaters, von ihr berichteten: Trotz ihrer stattlichen Figur, sei Maryke stets für das Schöne gewesen, sie putzte sich gern heraus, benutzte oft den Spiegel und habe meist die schwarzseidene Schürze getragen, die die Frauen sonst nur an Festtagen umgebunden hatten. Diese Tanten Dora und Emma bewirtschafteten zusammen mit ihren Brüdern Christoph und Georg den Gudjons-Szagarus-Hof in Alt Lubönen bis zur Vertreibung 1945. Sie sind alle gestorben, bzw. auf der Flucht umgekommen.)

Über Kleidung und Gewohnheiten der Zeit

Die Männer trugen Bauerntracht aus selbstgewebten Woll- und Baumwollstoffen. Im Winter Pelze aus weiß gegerbten Schaffellen. Bei Besuchen und Festlichkeiten wurde schwarzes Tuch und vielfach Seidenwesten (ebenfalls schwarz) getragen und die Pelze dazu mit dunklem Stoffbezug. Im Sommer bekamen alle Männer Anzüge aus Baumwolle, natürlich auch selbst gewebt.

Der Schneider kam im Frühjahr und Herbst auf acht bis vierzehn Tage ins Haus und “benähte” die ganze Familie. Vom Wirt (Hausherr) angefangen bis zum Hütejungen. Auch die weiblichen Mitglieder der Familie bekamen die Jacken (Blusen) vom Schneider genäht. Frauen trugen zur Arbeit meist selbstgewebte Stoffe, aber Kattun gab es auch schon (Kartun wurde er bei uns genannt).

Natürlich war die Mode für die Weiblichkeit maßgebend. Und Zeitschriften und Zeitungen sorgten für die Verbreitung der neuesten Trends. So trugen unsere Mütter schon “Krinoline” und “Biedermeier”, wie später auch Kü und Cul. Meine Mutter erzählte öfter, dass ihr die Krinoline das Leben gerettet habe. Sie war an einem Sonntag bei der Rückkehr von der Kirche in Schmalleningken mit dem Übersetzkahn untergegangen. Ihre Krinoline bauschte sich stark mit Luft auf und hielt sie so lange über Wasser, bis sie von herbeieilenden Schiffern gerettet werden konnte. Und meine Tante Hutecker (die Frau des Apothekers in Lasdehnen), zugleich Cousine von Eurer Großmutter Maryke, war die erste, die der darüber erstarrten Weiblichkeit der Verwandtschaft den ersten ‘Cu de Paris’ vorführte. Vielleicht sollte es ‘Queue de Paris’ heißen, oder besser noch ‘Cul’ (Steiss)?

Das Zusammenstellen der Aussteuer für die Mädchen begann schon, wenn sie noch in der Wiege lagen, besonders Wäsche und Handtücher wurden zurückgelegt. Und manche Bauerntöchter der damaligen Zeit brachten Hunderte von Hemden und Handtüchern, sauber gezeichnet und mit fortlaufender Nummer versehen, in die Ehe mit.

Zum Beispiel brachte meine Mutter, eine geborene Gawehns, dreihundert Hemden und ebenso viele Handtücher und anderes mit. Mein Vater hatte ebenso dreihundert Hemden. Der Grund war einfach. Denn die Knechte und Mägde trugen die Hemden des Bauern bzw. die Blusen der Bäuerin, weil die gesamte Kleidung des Dienstpersonals der Bauer bestreiten mußte. Das erklärt die Riesenmengen an Leibwäsche und Handtüchern. Mit der Bettwäsche war es ähnlich und Bettwerk gab es in jedem Haus in einer heute kaum mehr vorstellbaren Menge.

Weitere Angaben zum Dorf Alt Lubönen

Blick von Norden über die Memel auf die Stromwiesen von Alt Lubönen, Sommer 2010 (Foto von Werner Boes, Hilden)

Eine genaue Zahl über die Größe der Grundstücke in Alt Lubönen kann ich nicht mit Bestimmtheit sagen. Da die zehn Bauernstellen im Dorf etwa gleich groß waren, wird die Grundstücksgröße ungefähr 125 bis 150 Morgen betragen haben. Ein paar Höfe, die noch unverändert waren, hatten meiner Kenntnis nach so viele Morgen. Ich schließe daraus, dass auch der Hof des Jons Szagarus, der ja vorher den Gudjons gehörte, eine vergleichbare landwirtschaftliche Fläche besaß. Den größten Bauernhof in Alt Lubönen hatten die Grischkats (72 ha), deren Hof sich neben der Schule befand. Außer dem Land gehörten zu jedem Hof entsprechend Wiesen und Wald. Die Stromwiesen an der Memel waren besonders ertragreich.

Den Wald verschenkte das Dorf dem Forstfiskus, weil es durch ein Gesetz gezwungen war, eine geordnete Forstwirtschaft zu betreiben und einen Förster anstellen sollte. Für den Förster fehlte das Geld und so glaubte man, am einfachsten diesem Zwang aus dem Wege zu gehen, wenn man den Wald dem Fiskus schenkte. Sehr kurzsichtig und dumm.

Im Allgemeinbetrieb blieb vorerst nur das Torfmoor, das aber später auch je nach Größe der Höfe in Parzellen den Bauern zugeteilt wurde. Dieses Moor (lit. plinis) war ursprünglich Teil des Gemeindewaldes. Da das Gesetz eine Moorwirtschaft nicht forderte, behielten die Bauern ihre Flächen und machten dort in den Monaten Mai und Juni, aber immer vor Johanni, ihren Torf. Nach Johanni ging es ins Heu.

Sitten und Bräuche

Darüeber wäre unendlich viel zu sagen, daß man mit der Aufzählung ein ganzes Buch füllen könnte. Unser Dorf Alt Lubönen war klein, ursprünglich zehn bis zwölf Bauernstellen. Die Menschen waren aufeinander angewiesen. Unbedingte Ehrlichkeit war ungeschriebenes Gesetz. Bei Leihen oder Kauf galt der Handschlag an Stelle der schriftlichen Verträge. War ein Bauer in Not oder bei der Bestellung der Ernte im Rückstand, bekam er spontan Hilfe von den Nachbarn, ohne erst darum zu bitten.

Vor dem Feiern des Erntefestes stand der Wirt mit seiner Familie vor dem Haus, während der erste Knecht den Erntespruch aufsagte. Dabei hielt er in einer Hand seine Heugabel, die symbolisch mit Kornähren und Blumen umwickelt war. Der Erntebaum war auf der Mitte des Hofes errichtet, dessen Spitze eine Krone aus Ähren und Blumen geflochten, trug. Um diesen Baum wurde die ganze Nacht hindurch fröhlich getanzt.

Zur Aust (d.h. Kornernte) brachte der Mäher auch immer seine Binderin mit. Beim Flachsbrechen und Gänsefedernschleißen war so ziemlich das ganze junge Volk des Dorfes zur Stelle. Familienfeste (Hochzeit, aber auch Begräbnis) feierte die ganze Gemeinde mit. Der Geburtstag des Lehrers war für Alt Lubönen genauso ein Feiertag wie etwa Kaisers Geburtstag. Nur, dass es dabei familiärer zuging. Jeder Schüler brachte ein Geschenk. Ganz arme Tagelöhnerkinder brachten ein selbstgeflochtenes Körbchen oder einen Reiserbesen. Bei rund 120 Schülern (aus zwei Dörfern) kann man sich die Menge der Gaben vorstellen.

Gottesfurcht und Frömmigkeit waren Allgemeingut. So lange meine Mutter lebte, wurden morgens vor der Arbeit und abends vorm Schlafengehen Hausandachten gehalten. Es wurde ein kurzes Gebet gesprochen und ein Choral aus dem Gesangbuch gesungen. Jeden Sonntag hielt der Hausherr eine Sonntagsandacht. Das ganze Gesinde mußte teilnehmen. Die Predigt (deutsch oder litauisch) wurde verlesen. Eingangslied und Schlußlied aus dem Gesangbuch. Gebet und Vaterunser.

Zum Abendmahl fuhr die ganze Familie, auch Knechte und Mägde, wenn sie nicht katholisch waren. Unter dem Dienstpersonal gab es viele Katholiken, denn die meisten stellte Polen. So sagte man, meinte aber Litauen. Merkwürdigerweise sagten wir niemals Litauen oder Rußland, sondern immer “Polen”. Gelegentlich sprach man auch von Szameiten (Niederlitauen). Daß man die litauischen Arbeitskräfte als Polen bezeichnete, hängt mit der Geschichte zusammen. Denn bis zu den polnischen Teilungen (in den Jahren 1772, 1793 und 1795) war Litauen mit Polen in einer Union verbunden, und die Regierung versuchte bis dahin, die litauischen Landesteile zu polonisieren.

Die Litauer waren nie gut auf Polen zu sprechen, obgleich beide das gleiche Bekenntnis hatten: sie waren Katholiken. Die jungen Litauer entzogen sich durch Dienst in Preußen der verhaßten russischen Militärpflicht. Denn das russische System war schuld daran. Niemals durfte der russische Mann in seiner Heimat Soldat sein, sondern immer an der entgegengesetzten Grenze. Also Litauer und Polen mußten ihren Militärdienst im Kaukasus ableisten, auch im Ural oder Sibirien. Die Rekruten von dort wurden zu uns an die Westgrenze verpflichtet.

Feststag und Begräbnis

Familienfeste wurden ausgiebig, mindestens drei Tage lang gefeiert. Die drei großen kirchlichen Feste hatten ebenfalls drei Feiertage. Bei Begräbnissen artete es freilich manchmal aus. Aber die großen und weitreichenden Vorbereitungen schufen andererseits eine Ablenkung mit der häufig in lärmende Lustigkeit ausartenden Totenfeier und ließen den großen Schmerz der Nächsten dämpfen. Denn die Trauer war tief und echt, und der Schmerz der Familienmitglieder meist herzzerreißend.

Mir schien es oft so, dass diese großen und langen Trauerfeiern als eine Art “Rausch des Vergessens” in Gebrauch gekommen waren, weil wohl kaum anderswo in der Welt bei einem Trauerfall soviel Tränen vergossen wurden wie bei den leichtgerührten, sehr gutherzigen Ostpreußen. Dieses von anderen vielfach mißverstandene Totenfest war bei genauerer Betrachtung des Volkscharakters in erster Linie wohl als Spannungsausgleich anzusehen. etwa wie ein die Schmerzen linderndes leichtes Gift.

(Anmerkung der Szagarus-Tochter: Mein Vater Heinrich Szagarus erzählte mir, er hätte von den alten Leuten in Lubönen gehört, daß in früheren Zeiten bei einem Totenschmaus an der langen Tafel ein Platz für den Verstorbenen gedeckt war, daß man ihm wiederholt zuprostete, als ob er noch unter den Lebenden weilte.).

Der Konsum an Essen und Getränken war enorm. Bier und Branntwein, bei Gutsherren auch Wein, wurden vielfach gekauft, wenn nicht gerade selbstgebrautes Bier im Hause vorhanden war. Zu den hohen Kirchenfesten und den “baigtuwes” (Kornernte) sowie Heu- und Grummeternte wurde vorher reichlich Bier gebraut. Eine gute Hausfrau sollte also nicht nur alle häuslichen Arbeiten erledigen, neben Stricken und Weben, Wurstmachen, Räuchern (Fleisch und Fische) mußte sie auch Brauen können. Meine Mutter verstand sogar, Bier aus Mohrrüben zu brauen, Ein Kure hatte es sie gelehrt.

Zur Totenfeier des Bauern oder der Bäuerin mußten von den Tieren je zwei geschlachtet werden, zum Beispiel zwei Rinder oder Kälber, zwei Schweine, zwei Gänse, zwei Enten, zwei Puter, zwei Hähnchen usw. Mehr konnten es sein, aber nicht weniger. Für die Vaganten, Zigeuner, Musikanten und Sänger wurden große Zuber voll Sülze bereitgehalten.

Das Kommando über Küche, Keller und Feier-Raum bekam eine besondere Wirtin (die Wirtsche), meist eine Nachbarin mit Erfahrung und Geschick. Die Hausfrau sollte entlastet werden. Was da an Kuchen und Fladen gebacken wurde, kann sich nur ein Ostpreuße vorstellen. Herrlich schmeckte das selbstgebackene halbweiße Brot, das zum Beispiel bei den Szagarus in einen im Gemüsegarten stehenden Steinbackofen immer zu dreißig Stück auf Rübenblättern geschoben wurde.

Dem Toten zog man sein bestes Kleid an, oder eins, das er besonders bevorzugt hatte. Ein Gesangbuch wurde unter das Kopfkissen gelegt. Bis etwa 1900 wurde in manchen Familien vor dem Hinabsenken des Sarges in das Grab nochmals der Deckel hochgehoben, und die Familienmitglieder verabschiedeten sich von dem Verblichenen mit einem Kuß auf den Mund.

Gegen diesen Brauch gab es damals schon Kritik. In den letzten Jahrzehnten war der Kuß nur symbolhafter Art und die Lippen wurden nicht berührt. Das Geleit zum Friedhof sang unterwegs mehrere Bestattungslieder aus dem Gesangbuch. Es wurden auch Klageweiber engagiert. Die wußten schaurig-schöne Totenlieger zu singen. Ein oft angestimmtes Klagelied begann mit der Zeile: “Da liegst du nun, der Würmer Fraß...”

Der Sarg wurde auf einer Totenbahre getragen, nur bei ganz schlechten Wegverhältnissen oder Schneeverwehungen wurde er gefahren. Der Sarg war mit langen, starken Leinentüchern an der Bahre festgebunden. Auf dem Friedhof wurden diese Leinentücher zum Hinabsenken des Sarges benutzt. Seile wurden dabei nicht verwendet. Der nächste Kirchgang nach dem Begräbnis war ein Dankgottesdienst für den Verstorbenen, und am nächsten Totensonntag mußten alle nahen Angöhrigen am Gottesdienst als allgemeinen Danktag für alle im letzten Jahr Abgeschiedenen teilnehmen.

Kirchgang

Der Napoleonsweg in Alt Lubönen, Sommer 1995 (Foto. Bernhard Waldmann)

Die Kirchen waren für die Bewohner der Memeldörfer nur per Fuhrwerk zu erreichen. Bis 1870 gab es im nordöstlichen Bereich des Kreises Ragnit lediglich zwei Kirchen: Wischwill, nördlich der Memel, und Lasdehnen, südlich der Memel. So hatten die Kirchenbesucher Wege bis zu 25 Kilometer zur Kirche zu fahren, macht hin und zurück 50 Kilometer. Da braucht man sich nicht zu wundern, daß die Nachbarhäuser der Kirchen lauter Gasthäuser (Krug sagte man bei uns) waren.

Es galt einmal, das Gefährt unterzustellen und dann die Pferde zu füttern. Man schrieb auch Freunden und Bekannten, wenn man vorhatte, zur Kirche zu fahren. Nach dem Gottesdienst traf man sich in den Gasthäusern und veranstaltete aus diesem Anlaß zugleich Gastereien, Familientagungen und Konfirmationsfeiern. Natürlich wurde auch über Eheschließungen verhandelt. Die Kontakte wurden von geschickten Brautwerbern angebahnt. Wen kann es da wundern, daß ein solcher Kirchgang, oder besser gesagt, eine solche Kirchfahrt, einen ganzen, geschlagenen Tag dauerte?

Zum Kirchgang des weiblichen Geschlechts gehörte neben dem mitgeführten Gesangbuch noch das Taschentuch und zur Sommerszeit stets ein Blumensträußchen. Bevorzugt wurden Blumen mit starkem Duft, so daß es bei den Gottesdiensten manchmal wie in einem Parfümladen gerochen hat.

Die Taufe eines Neugeborenen mußte innerhalb von drei Tagen vollzogen sein. So wurde meine Großmutter, die ebenfalls Maryke hieß, am 8. Oktober 1809 in Juknaten geboren und bereits am 10. Oktober in der Kirche zu Lasdehnen getauft. Ihr Mann Kristups (Christoph) war am 5. Februar 1801 in Alt Lubönen geboren und wurde bereits am 7. Februar in der Kirche in Wischwill getauft. Mein Vater, also der Bruder Eurer Großmutter Maryke, wurde am 25. Dezember 1832 geboren und schon am nächsten Tag in der Kirche in Wischwill getauft.

Ich habe einige Ahnen in meinen Nachweisen, die sogar am Geburtstag selbst noch getauft wurden. Man fragt sich, wie das wohl bei den sehr kalten, ostpreußischen Wintern durchgeführt werden konnte. Vermutlich wurden Wärmekrukken oder Wärmesteine benutzt, Pelze sowieso.

Zum Konfirmandenunterricht mußte man ein Jahr gehen, und in der Schule war jeden Tag in der ersten Stunde Religionsunterricht. Jeden Sonnabend hatten wir das für den Sonntag zuständige Evangelium nebst der Epistel und den dazugehörigen Gesangbuchliedern auswendig aufzusagen. So kam es, daß wir bis zur Schulentlassung den allergrößten Teil des Neuen Testaments, ebenso der Apostelgeschichte und auch viele Gesangbuchlieder auswendig hersagen konnten.” [1]

Tante Schöler

Von Bernhard Waldmann

Tante Schöler

Tante Schöler war die Schwester unserer Oma Emma Grischkat, geb, Bascun. Oma Grischkat war nicht unsere richtige Großmutter. Sie war die Schwiegermutter meiner Tante Martha Radtke, die ihren Sohn, den Bauern Franz Grischkat aus Alt Lubönen geheiratet hatte. Wir sagten aber immer Oma Grischkat, auch, als sie nach dem Krieg bei uns in Weißenbach im Schulhaus wohnte. Doch zurück zu Tante Schöler. Sie hatte ins Memelgebiet geheiratet, kam aber oft zu Besuch nach Alt Lubönen. Tantchen bracht immer was mit, mal die Pilzche, mal dem Spirgel, mal dem Meschkinnes, mal die selbstgemachten Keilchen. Drüben war ja alles billiger, seit die Litauer das Memelland einkassiert hatten.

Zum Geburtstag meines Großvaters Georg Radtke wollte Tante Schöler die Luböner mit einem besonderen Geschenk überraschen: Sie schlachtete ein Karnickel aus dem hofeigenen Hasenstall. Tante Schöler wußte, daß der Landjäger auf dem Fähranleger in Schillehnen sehr streng und gewissenhaft war. Deshalb stopfte sie den Hasenbraten in ihren Schlüpfer. In den Unterhosen der Frauen wurde viel Schmuggelware transportiert, denn das waren Pumphosen, die bis ans Knie reichten, nicht mit den heutigen Slips vergleichbar. Danach ging Tantchen etwas breitbeinig, was aber nicht besonders auffiel, weil sie recht korpulent war.

Auf dem Dampfer Herold sagten junge Burschen zur memelländischen Bäuerin: "Nu Frau'che, wolln'se sich nich hinsetzen?"
Tante Schöler antwortete: "Neijn, neijn, ich steh' all' lieber." Dummerweise war Niedrigwasser, und der Dampfer konnte nicht direkt am Fähranleger in Schillehnen festmachen. Die Reisenden mußten mit dem Ruderkahn ans Ufer gebracht werden. Beim Umsteigen in das kleine Boot mußte unsere Tante einen großen Schritt machen, und dabei plumpste das Kaninchen ins Wasser. Der alte Baldruschat hat das Karnickel mit einem beherzten Griff aus dem Wasser gezogen.

Der Landjäger zog die Augenbrauen zusammen. "Madamche, ist das Ihr Hase?" Tante Schöler fing an zu stottern: "Herrjeijss, ich weiß auch nich, wo das Tier herkommt."
Die Ausreden brachten nichts. Tante Schöler mußte Zoll und Strafe bezahlen.
Wenn Sie den Hasen beim Dodszuweit in Lasdehnen gekauft hätte, wäre es billiger gewesen.

  1. Quelle: Der Bericht des Hans Gudjons wurde von seinem Großneffen Bernhard Waldmann zur Verfügung gestellt.