Hundstage

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H u n d s t a g e

Von Gerhard Krosien

Es ist so weit! 1941. Vater muss zur Front im Osten. Der Gestellungsbefehl ist da. Nun heißt es: Alles regeln, was zu regeln ist! Wer weiß, was die Zukunft bringt?

Also werden wichtige Unterlagen gesammelt und in einer extra dafür angefertigten Leinentasche verstaut. Zahllose Schreiben gehen an die verschiedensten Adressaten ab. Fällige Zahlungen werden im Voraus an ihre Gläubiger angewiesen. Und so weiter, und so weiter.

Doch halt! Da ist noch ein großes Problem zu lösen. „Brauner“, unser gutmütiger Neufundländer, ist noch da. Er ist mit uns Kindern aufgewachsen, läuft frei auf dem gesamten Anwesen und auf der Straße herum und tollt mit allen Kindern, kurz: Er gehört ganz zur Familie. Was soll jetzt aus ihm werden? Jetzt, wo doch sein „Rudelboss“ in Zukunft fehlen wird? Die Mutter hat genug mit uns Kindern und mit dem Grundstück zu tun!

„Totschießen!", rät der Nachbar kühl. „Verkaufen!", schlägt Großvater vor. Gegen beides ist die gesamte Familie. Aber, das Problem muss gelöst werden! Alle sind dafür.

Zuletzt rät der etwa 400 Meter östlich des Familiengrundstücks wohnende Nachbar, ihm das Tier „in Obhut“ zu geben. Er sei alt, und man werde ihn schon nicht mehr an die Front holen. Da passe das doch ganz gut. Er brauche einen guten Wachhund, und die Familie könne ja jederzeit herüberkommen und „Brauner“ besuchen.

Das ist die Lösung! Und so muss „Brauner“ eines Tages seinem neuen Herrn ins neue Quartier folgen. Die Familie hat Trauertag.

„Brauner“ wird an die Kette gelegt - ein ganz neues Gefühl für ihn! Die meiste Zeit ist die Kette darum von ihrem Befestigungspunkt am Haus neben der Hundehütte stramm gespannt. An ihrem Ende steht der große „Brauner“ senkrecht auf seinen Hinterbeinen, mit aufgerissenem Rachen, mit heraushängender Zunge, jaulend, heruntergekommen, nach Westen starrend.

Besonders schlimm ist es, wenn der Wind von Westen her weht. Dann trägt er wohlbekannte Gerüche des „Stammhauses“ herüber, die das Tier in seiner Hilflosigkeit nahezu zum Wahnsinn zu treiben scheinen! Und dieser Wind weht oft.

Wie toll benimmt „Brauner“ sich auch bei jedem „Besuch“ ehemaliger „Rudelmitglieder“. Beide Pfoten des mächtigen Tieres liegen dann auf den Schultern der kleinen Besucher, der buschige Schwanz peitscht nur so durch die Luft, und unsere Köpfe werden mit nicht enden wollendem Zungenlecken bedacht. Ein Bild unbeschreiblicher Freude - und Trauer zugleich

Der neue Besitzer ist bei „Brauner“ dagegen überhaupt nicht gefragt. Er wagt es nicht einmal, dem Tier nahe zu kommen. Sofort sieht er gefletschte Zähne und hört bösartiges Knurren. So geht das nicht weiter! Es dauert auch nicht lange. Eines Tages ist der Knall eines Schießgewehres zu hören. Seitdem herrscht Ruhe auf dem Anwesen. Auch gibt es keine „Besuche“ mehr dort.

Nach mehr als 50 Jahren - so stelle ich als ehemaliges „Rudelmitglied“ 1991 fest - ist dies Erlebnis noch so frisch, als ob es erst gestern gewesen wäre. Das, obwohl es „Brauner“ und das Nachbaranwesen schon lange nicht mehr gibt.