Handbuch der praktischen Genealogie/339

aus GenWiki, dem genealogischen Lexikon zum Mitmachen.
Zur Navigation springen Zur Suche springen
GenWiki - Digitale Bibliothek
Handbuch der praktischen Genealogie
Inhalt
Band 2
Tafel: I • II • III • IV • V • VI • VII • VIII • IX • X • XI
<<<Vorherige Seite
[338]
Nächste Seite>>>
[340]
Handbuch der praktischen Genealogie.djvu
Hilfe zur Nutzung von DjVu-Dateien
Texterfassung: korrigiert
Dieser Text wurde anhand der angegebenen Quelle einmal korrekturgelesen. Bevor dieser Text als fertig markiert werden kann, ist jedoch noch ein weiterer Korrekturdurchgang nötig.



die Bildung einer Gruppe in irgend einer Weise materiell gleich privilegierter Familien. Bei der Entstehung des deutschen niederen Adels im 12. und 13. Jahrhundert, des französischen Militäradels unter Napoleon I., der nordamerikanischen Millionärsaristokratie in letzter Zeit — überall ist der Anfang eine gesellschaftliche gleiche Sonderstellung irgendwie tatsächlich privilegierter Menschen, die sich bald als Familiengruppe fühlen und verbinden und gegen andere Volksgenossen möglichst abschließen. Die öffentlich-rechtliche Zuerkennung besonderer Rechte für alle, die aus einem solchen Kreise stammen, folgt nach; erst wenn sie erfolgt, kann man von einem wirklichen Adel sprechen. Bis sie erfolgt, ist es nur die Genealogie, die als formelle Handhabe dient, um zu bestimmen, wer zu der besonderen Gruppe gehört Die Genealogie ist aber Kenntnis der Vergangenheit. Sie verkörpert die Tradition. Sie hält fest und verbindet mit bestimmten lebenden Menschen, was die Vorfahren einst geleistet und erreicht haben. Wo die formelle Abschließung zum gesetzlich anerkannten Adel fehlt, ersetzt die Genealogie geradezu die anerkennende Staatsgewalt, bildet also einen wichtigen und mächtigen Faktor im Leben des Volkes; denn ohne Tradition und ohne fortwährendes Zurückblicken auf die eigene Vergangenheit und die Männer, die in der Vergangenheit bedeutend waren, kann kein Volk leben. In den ältesten deutschen Rechtsquellen ist Genealogie geradezu gleichbedeutend mit Geschlecht; oder besser mit Abstammung; denn auch die Söhne weiblicher Nachkommen eines bedeutenden Mannes gehörten bis in das Mittelalter hinein zu seiner Genealogie. Und „Genealogien" bildeten nur die bedeutenden Männer. Es ist ja ganz natürlich, daß in Perioden, die einen formalrechtlich ausgezeichneten Adelsstand nicht kennen, wirkliches und allgemein anerkannntes Verdienst dazu gehört, um als adelig zu gelten. Erst durch den Ritterschlag oder den Briefadel oder andere formelle Erhebungszeichen wird es dem Rechtsstaat möglich, ohne allgemeine Berufung und ohne die bereits als adelig Anerkannten zu fragen, Menschen in die privilegierte Adelslage einzuführen. Wenn also die germanische Aristokratie der Principes und ihrer Genealogien noch nicht ein Adelsstand in der modernen rechtlichen Bedeutung war, so kann man doch auch wieder sagen, daß diese germanischen „Vornehmsten" und „Ersten" des Volkes in besserem Sinne einen Adel darstellten: sie waren notwendig Abkömmlinge von Männern, die sich für den Stamm verdient gemacht hatten. Soweit war die Konsolidation des Adels schon fortgeschritten, daß die Völkerschaft ihre Führer im Frieden und, soweit irgend möglich, auch im Kriege aus den Abkömmlingen, den Genealogien ihrer früheren Anführer und Häuptlinge auswählte. Es war nicht jeder dieser Abkömmlinge zu einer besonderen Ehrenstellung, zu Rang oder Würde berufen; aber aus der Zahl der so traditionell qualifizierten Männer wählte man die, denen man gehorchen wollte.

      Es wird uns vielleicht heute schwer, uns in eine solche Anschauung hineinzudenken. Wir verbinden zu unwillkürlich Genealogie mit Erbrecht. Jeder Thron hat einen „Erben". Der Adel „stirbt aus", wenn es an Erben