Handbuch der praktischen Genealogie/337

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Handbuch der praktischen Genealogie
Inhalt
Band 2
Tafel: I • II • III • IV • V • VI • VII • VIII • IX • X • XI
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Schritt für Schritt vor sich gegangen ist, müssen wir für alle einzelnen Epochen unserer Geschichte die verschiedenen Ständegruppen genau unterscheiden. Und dabei sind wir ganz und gar auf die Genealogie angewiesen. Sie zeichnet uns das Bild der Geschlechter, die irgendeinmal in privilegierter Stellung waren; zeigt uns, wie das eine Geschlecht seine Privilegien steigerte, das andere sie verlor; lehrt uns die Anzahl der Familien in gleicher ständischer Lage je für eine bestimmte Zeit übersehen. Und auf dem Grund solcher Erkenntnisse müssen wir unsere Verfassungsgeschichte aufbauen; denn die präzisen, gesetzlich normierten Rechtsregeln, die heute unser Verfassungsleben beherrschen, gab es früher bei uns nicht. Wir haben, um zu sehen, was früher bei uns Verfassungsrecht war, keine alten Verfassungsurkunden und kaum einmal eine dürftige reichsgesetzliche Bestimmung oder gerichtliche Entscheidung, auf die wir uns stützen könnten. Aus der Erkenntnis der lebendigen Verkehrsregeln in den verschiedenen Jahrhunderten müssen wir die Gewohnheiten herauslesen, die mit der Kraft des Rechts das Leben der vergangenen Tage beherrschten. Die ganze deutsche Verfassungsgeschichte ist wie kaum eine andere auf subtile, indirekt folgernde, ungemein komplizierte Auslegungskunst angewiesen. Und diese Auslegungskunst ist nicht nur unmöglich ohne genealogische Beobachtungen und Anhaltspunkte: sie ist für wichtige Epochen geradezu identisch mit einer Durchforschung des überlieferten Quellenmaterials nach genealogischen Zusammenhängen. Die Genealogie ist für die deutsche Rechtsgeschichte nicht nur ein formeller Behelf, sondern materielle Grundlage.

      Diese wichtige Rolle der Genealogie im Rahmen der deutschen Rechtswissenschaft ist lange verkannt worden. Die Genealogie hatte bei uns sich selbst zu sehr wissenschaftlich diskreditiert. Erst in den allerletzten Jahren ist es in Deutschland wieder möglich geworden, mit dem vollen Anspruch auf Wissenschaftlichkeit rein genealogische Gesichtspunkte für die Erforschung unserer Verfassungsgeschichte zu verwerten, die so unendlich reich an Gestaltungsformen ist; die viel mehr als heute der Fall grundlegend für unsere modernen Anschauungen vom Sinn und vom Wert bestimmter Verfassungsformen sein könnte; die aber erst gründlich aufgebaut und umfassend dargestellt werden muß, damit der ganze geschichtliche Beispielswert deutlich hervortritt, der in dieser unserer deutschen Verfassungsgeschichte für uns verborgen ist.

      Die folgenden Abschnitte sollen in kurzem Überblick zeigen, inwiefern während der verschiedenen Perioden der deutschen Vergangenheit die genealogische Wissenschaft rechtsgeschichtliche Untersuchungen leiten muß.[1] Eine Umschau über die positive Rechtslage des modernen Adels in Deutschland wird sich abschließend anreihen.


  1. Wegen näherer Ausführungen und tieferer wissenschaftlicher Begründung der hier dargelegten Gesichtspunkte, die für die Fortentwicklung der deutschen Rechtsgeschichte einschneidende Bedeutung haben, muß ich auf meine Programmschrift „Staat und Volk durch die Jahrhunderte" (1911), auf mein „Thronfolgerecht der deutschen Kaiser" (1910) und auf die Abhandlung „Die Staatsreform der Hohenstaufen" (Festschrift für Zitelmann, 1913) verweisen.