Fluchtgedenken 1944 – 1946 von Hartmut Toleikis

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Die 1. Flucht



An die erste Flucht kann ich mich nur in kleinen Ausschnitten erinnern. Den Befehl dazu hatte ich nicht gehört oder nicht verstanden. Der Leiterwagen wurde durchgeprüft, Radbuchsen geschmiert, Bögen aus stabilen Ästen geformt und am Wagen aufrecht befestigt, ein großer Teppich mit Firnis getränkt und über die Bögen gespannt, den „Fuchs“ hatte der „Isegrimm“ neu beschlagen. Die Schmiede Grimm war einer unserer direkten Nachbaren. Betten, Essen, Geschirr, Wasser, Pferdefutter und vieles mehr im Wagen verstaut. Auch das Töpfchen für meinen Bruder Arno war dabei, ohne den er kein „Geschäft“ machen wollte. Die „Trude“, unsere Kuh, wurde in die Freiheit entlassen. Enten, Hühner, Gänse waren es von jeher gewohnt ihre eigenen Wege zu gehen und konnten sich selbst überlassen werden. Lediglich die „Senta“, unser Hund, musste an der Kette bleiben. Unser Knecht, der Anton Daugela, der aus Litauen stammte, fuhr nicht mit. Auch die „Jenna“, Genovefa Orlinska, war nicht dabei. An die hätte ich mich bestimmt erinnert, denn sie hatte sich immer liebevoll um uns gekümmert. Vermutlich hat sie versucht, sich nach Polen, woher sie ja stammte, durchzuschlagen und ist hoffentlich nicht den Russen in die Hände gefallen. Später, im Jahr 2003, habe ich eine Suchanzeige in eine polnische Zeitung gesetzt, um ihr die Tätigkeit bei uns bestätigen zu können, die sie wohl für die Rentenberechnung gebraucht hätte. Leider keine Reaktion.

An die Anfahrt und den Weg sind in der Erinnerung nur Bruchstücke geblieben. Einmal, ich glaube es war Gumbinnen, machten wir auf dem mit Kopfsteinen gepflasterten Marktplatz in der Nacht Rast. Es regnete und es war Gelegenheit, die Ausrüstung zu überprüfen, die Pferde auszuspannen und zu versorgen.

Einmal kam mein Vater in den Wagen und brachte einen großen geräucherten und gekochten Schinken mit, den er von einem Bauern erhalten, dem er den zusammengebrochenen Wagen repariert hatte. Das besprach er mit meiner Mutter. Also muss mein Vater, wenigstens zeitweise, dabei gewesen sein. Sonst fehlt mir jede Erinnerung, auch die an meinen kleinen Bruder.

Das nächste Bild ist der herrliche Blumengarten bei meiner Tante Martha Fischer in Tappelkeim (Kreis Pr. Eylau). Hier blieben wir bis zur Rückkehr. Als Erwachsener habe ich mir die Wegstrecke auf der Landkarte einmal angesehen. Es muss eine schier unglaubliche Strapaze gewesen sein unter den Bedingungen dorthin zu gelangen und dann auch noch der Weg zurück nach Kebbeln.


Das Heimathaus „Waldschänke“ Kebbeln

Die nächsten Bilder tauchen aus Kebbeln auf. Jeder Bauer suchte sein Vieh zusammen, in den Wäldern und auf den Weiden, Schafe, Schweine, Rinder, Pferde. Ich suchte die „Senta“. Auf der Hausseite zum Weg, der zum Nachbarn Schweizer führte, war seine Hundehütte. Da war noch die Kette. Ein Ende an der Hütte befestigt und die Kette lag am Boden, aber am anderen Ende sollte doch der Hund sein. Ich zog an der Kette und das andere Ende war im Boden. So zog ich denn kräftig an der Kette und schließlich die tote Senta aus der Erde. Vor Schreck ließ ich die Kette fallen und lief in das Haus.

Es war im Evakuierungsbefehl angeordnet worden, die Hunde angekettet zu lassen. Diese wurden dann erschossen und notdürftig verscharrt. Damit sollten Rudel von wildernden Hunden vermieden werden. Deutsche Gründlichkeit: obwohl man nicht mit einer Rückkehr rechnete, sollte der Feind keine wildernden Hunde vorfinden. Der Laden und die Gastwirtschaft wurden wieder eröffnet.

Einer der Gäste prahlte mit einer guten Milchkuh, die er aufgegriffen hatte und beschrieb sie. Vermutlich hatte der Alkohol zur Redseligkeit beigetragen. Meine Mutter ging am nächsten Tag zum Stall dieses Bauern und rief von der Stalltür her „Trude“, worauf diese antwortete und so hatten wir unsere Kuh wieder.

Die 2. Flucht

Im Herbst 1944, die Ernte war eingebracht, ging es zum zweiten Mal auf die Flucht. Langer Vorbereitungen bedurfte es nicht. Wir hatten ja durch die Vorbereitung und Durchführung der ersten Flucht Übung. Der Leiterwagen war mit dem in Firnis wasserfest gemachten Teppich, der über die Bogen gespannt war, abgedeckt. Wie in den „Western-Filmen“ jetzt zu sehen ist: Lebensmittel, Kleidung, Betten und Pferdefutter verstaut, die Schweine, die Kuh, das Geflügel in die Freiheit entlassen. Mein Vater hatte einen Splittergraben im Garten in der Nähe der Bienenstöcke ausgehoben. Vermutlich auf Anordnung, um den Landsern Deckung zu geben. (Ein Schild mit dem Hinweis: nur für deutsche Landser, war aber nicht angebracht worden). In diesen Graben verstauten wir unsere, für uns wertvollen Habseligkeiten, Nähmaschine, Geschirr usw. in Holzkisten verpackt und schaufelten ihn wieder mit Erde zu. Unser Knecht, der Anton, kam nicht mit. Ich glaube der Bernhard, ein Kriegsgefangener aus Belgien oder Frankreich, war wohl schon untergetaucht. Nach dem Krieg hat meine Mutter versucht ihn zu finden und Kontakt aufzunehmen. Durch Dritte ließ er mitteilen, dass er darauf keinen Wert lege. Von unseren Leuten auf dem Hof hatten wir nichts zu befürchten und von den anderen Zwangsarbeitern und Kriegsgefangenen auch nicht.

Die aufzunähenden Kennzeichnungen hatten sie zu abnehmbaren Abzeichen gemacht und sie hatten das stillschweigende Einvernehmen.

Mein Vater lag in Königsberg im Krankenhaus „Barmherzigkeit“. Mein älterer Bruder Helidor war nicht mehr da. So machte sich denn meine Mutter mit ihren beiden Kindern, meinem jüngeren Bruder und mir, auf den Weg in die ungewisse Zukunft.

Auf dem ersten Abschnitt, noch auf dem Sandweg, von Kebbeln nach Wilkieten, lag eine Leiche, meine zweite in meinem Leben, am linken Wegrand neben dem Graben auf dem Rücken, mit dem Kopf in Fahrtrichtung. In gelber Uniform. Die Ohren abgeschnitten, die Augen ausgestochen. Mehr konnte ich nicht erkennen, weil meine Mutter mich vom Bock in den Wagen schickte. Ich hörte die Erwachsenen sagen, es sei ein „Goldfasan“. Sonst kann ich mich nur noch an die Fahrgeräusche, die mich ein Leben lang begleiten, erinnern. Es war schön, im weichen Bett zu liegen, die Räder mahlen im Sand der Wege, sie rumpeln auf dem Kopfsteinpflaster und wiegen so schön, die sanften Geräusche der eisenbeschlagenen Räder auf dem Asphalt und das Kluck – Klack – Kluck – Klack der Hufe der Pferde, deren Klänge dann auch durcheinander geraten, zwischendurch ein „Pirr“ oder ein „Jua“ oder „Hüh“, das Klingen eines losen Hufeisens und dem dann folgenden „Verflucht“. Ja, es war abenteuerlich, romantisch, alles neu, es sollte doch ja nicht aufhören. Solche Melodie bekommen auch Kinder der fahrenden Völker in die Wiege gesungen und man wird nicht mehr sesshaft. Das wusste aber damals noch keiner.

Wir kamen an eine große Brücke und es ging nur noch stoßweise weiter hinauf. Heute sagt man stopp and go. Abwärts wurden wir begleitet von Männern mit langen, dicken Knüppeln. Wenn die Wagen ins Rollen kamen und drohten den Pferden in Fesseln zu laufen, dann stießen sie mit den Knüppeln in die Speichen der Räder, worauf die Knüppel gegen die Achsenauflager schlugen und die Räder blockierten. Die Wagen bremsten ab und konnten so nicht in die Vorausfahrenden auflaufen. Unterwegs sind immer wieder Wagen liegengeblieben weil die Buchsen der Räder heißgelaufen waren. An einer Seite der meisten Wagen baumelte ein Topf mit Wagenschmiere. Viele der Flüchtlinge gingen ohnehin die meiste Zeit neben den Wagen her. Das entlastete die Pferde und nebenher wurden die Naben geprüft und bei Bedarf nachgeschmiert. Sonst habe ich keine Erinnerung an die Flucht, bis wir in Lichtenhagen ankommen waren.

In Lichtenhagen sammelten sich die Fuhrwerke auf dem Hof eines großen Bauernanwesens, schräg gegenüber der Kantorei'. Die Pferde wurden versorgt und die Flüchtlinge den einzelnen Anwesen zugeteilt. Wir waren dem Haus des Kantors zugewiesen worden. Das lag direkt gegenüber dem Kircheneingang, der sich im Turm befand. Wir drei waren in ersten Stock in einem Zimmer. Einmal bekam ich von meiner Mutter ein halbes Butterbrötchen mit Marmelade, biss es nur an und legte es dann weg – wenn ich nur gewusst hätte – oder auch gut, dass ich es noch nicht wusste – Wochenlang ging mir später diese Brötchen nicht mehr aus dem Sinn, wenn ich es doch nur noch einmal kriegen könnte; diese untere Hälfte, in der der Abdruck der Zähne in der Butter noch zu sehen war und davor die schöne rote Marmelade. Da war noch eine älteres Ehepaar , Lehrer, glaube ich, auf dem selben Stock. Der Kantor hatte Bienenstöcke im Garten und ich schaute ihm manchmal zu, wenn er die Waben prüfte. Im Haus war ein Unterrichtsraum. In dem war jetzt aber die Schreibstube der Wehrmacht und auch ein Schneider der Wehrmacht hatte zu da zu tun. Die Soldaten zeigten ihm z.B. wie er die Knöpfe an der Hose anzunähen hätte, damit diese sich im Notfall mit einem Rutsch öffnen ließ.

Mit meiner Mutter bin ich einmal nach Königsberg gefahren. Wir haben dort meinen Vater in der „Barmherzigkeit“ besucht. Ein Flügel des Gebäudes war zerstört. Der erste Schaden dieser Art, den ich sah. Später las ich in einem Buch, dass das Krankenhaus Barmherzigkeit nicht getroffen worden sei, aber ich sah den zerstörten Flügel des Gebäudes. Mein Vater hatte einen Magenblutsturz und wurde künstlich ernährt. Ein Schlauch mit Nährflüssigkeit führte in ein Loch in der Bauchdecke neben dem Nabel – ja, das zeigte er mir. Sonst hatte ich ja kaum etwas von meinem Vater – spielen ? – toben ? --- es war Krieg. Als Erwachsener erfuhr ich, dass die Kranken und Verwundeten in der „Barmherzigkeit“ von den Siegern bestialisch umgebracht worden sind. Da war viel Hass in den Seelen und viele Seelen krank.

Der Winter war dann sehr kalt. Die Fahrzeuge des Militärs waren alle eingefroren. Ein LKW mit Raupenketten und Holzvergaser musste alle anschleppen. Das Holz für das Holzvergaserauto wurde in einem Drehofen getrocknet. Das Holz wurde in eine Art Waschmaschinentrommel gelegt und die über einem offenen Holzfeuer, dass in einer Art Wanne brannte, mit einer Handkurbel gedreht.

Dann kam mein Vater aus dem Krankenhaus. Am nächsten Tag waren die Einheimischen und das Militär weg. Das ältere Ehepaar war noch da und wir. In der Schreibstube lag Stroh. Da müssen also noch Landser gelegen haben. Dann hieß es: die Russen kommen. Wir sind dann in den Keller des Kantorhauses. Mein Vater prüfte, ob sich das Kellerfenster als Notausstieg eignen würde und blieb fast stecken – es ging zur Not. Dann kamen die ersten russischen Soldaten in den Keller. Mein Vater konnte sich mit ihnen unterhalten und er bot ihnen einen Schnaps an. Nachdem er das erste Glas selber getrunken hatte, worauf sie bestanden, tranken sie auch und gingen dann wieder. Angst und Spannung hatte jeden ergriffen – alles neu – alles fremd – alles ungewiss. Am nächsten Morgen bin ich einmal vor die Haustür. Einige Knaben liefen umher und bliesen auf den Orgelpfeifen, die sie aus der Kirche hatten, Männer in abgerissener Kleidung zeigten mir mit dem Messer, wie sie uns entmannen würden. Da bin ich dann schnell zurück ins Haus.

Am frühen Morgen, noch in der Nacht, brannte das Haus. Wir kamen gut nach unten und hinaus. Die alte Frau bat um Hilfe, weil ihr Mann schlief und sich nicht aufwecken ließ. Zum Tragen war er zu schwer und es war alles voller Rauch und es brannte. So zog man ihn denn an den Füßen über den Boden und die Treppe hinunter, wobei der Kopf auf jede Stufe bummste. Wir sind dann in der Kirche untergekommen. Auf der linken Seite auf dem Fußboden lagerten wir. Da waren unten keine Kirchenfenster. Die waren uns gegenüber, also vom Eingang auf der rechten Seite auf halber Höhe. Dort saßen die Soldaten und reinigten ihre Schusswaffen. Mit einer Art Kugelkette zogen sie kleine Lappen durch die Gewehrläufe. Gestühl, also Bänke, war nicht mehr vorhanden – alles verheizt.

Der Altar stand noch. War er aus Stein, oder weshalb sonst war er noch vorhanden ? Er wurde aber recht praktisch genutzt – man konnte von ihm herab seine Notdurft verrichten. Meine Mutter versteckte im Turm hinter einem losen Stein in der Mauer ihre Papiere.

Die alte Frau bekam ihren Mann nicht wach, weil er sich anscheinend mit Tabletten hatte vergiften wollen. Das wurde zum Problem, weil wir zu einem Treck zusammengestellt werden sollten. Die Frau bat jetzt einen der russischen Soldaten ihren Mann mit seiner Pistole zu erschießen. Nachdem sie ihm einen Wecker angeboten hatte, wurden sie sich einig. Ein dickes Tuch, zusammengeknüllt auf den Kopf gedrückt, sollte wohl das Verspritzen verhindern. Danach gab sie dem Soldaten den Wecker, worauf dieser gerade im dem Augenblick zu klingeln anfing. Der Soldat war so erschrocken, dass er den Wecker wegwarf und hinterherschoss. Der Mann fing wieder an zu schnarchen. Das Tuch hatte wohl einen gezielten Schuss verhindert. Jetzt wollte die Frau, dass der Soldat noch einmal schießt, was dieser aber ablehnte. Wie das Drama weiterging - - - ? Wir mussten die Kirche zum ersten Treck verlassen und viel Kilometer mit Toten, Hunger, Gräuel, Gestank, Zerstörung, Vergewaltigungen, Trennungen wurden zum Alltag.

Meine Mutter sagte mir später, wo sie die Unterlagen versteckt hatte und dass ich diese bei Gelegenheit holen sollte. Sie könne unter keinen Umständen mehr freiwillig in dieses Gebiet. Auch in die Heimat gelang sie erst nach wiederholter Planung. Ob meine Erinnerung mich je nach Königsberg fahren lassen wird – ich weiß es nicht. Vielleicht hilft mir dieses Schreiben darüber. 2012 hat mein Verwandter Wilfried Hubert mir dankenswerter Weise die Fotos der Kirchenruine Lichtenhagen geschickt. Für mich stellt des Bild des Kirchengiebels den Ausdruck der Furien des Krieges dar und obwohl ich seit Jahrzehnten schreiben wollte, aber nicht konnte, war das jetzt der Auslöser. „Und neues Leben wächst aus den Ruinen“ könnte man sagen, wenn man das Storchennest auf dem Giebel beachtet.


Fortsetzung