Berichte des Lehrers Reinhold Ratzmann aus Platjenwerbe

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Die nachfolgende Dokumentation, im Ursprung eine Handschrift, hat der Lehrer Reinhold Ratzmann dem Bäckermeister und Gastwirt Arnold Bruns in Dankbarkeit für dessen Hilfe und Unterstützung zu Weihnachten 1947 gewidmet.

Im folgenden ist die in Deutscher Schrift ausgeführte Aufzeichnung aus der kleinen Kladde transkribiert. Im Archiv des Heimatvereins gibt es zusätzlich die Version einer direkten Gegenüberstellung von Urschrift und Transkription.


Daten zur Familie Ratzmann*

Portrait Reinhold Ratzmann.jpg

Reinhold Fritz Karl RATZMANN,
geb.03.02.1883 in Reckow, Kreis Regenwalde / Pommern
(Standesamt Großborkenhagen in Reckow Nr. 5/1883)
gest.07.02.1962 in Pinneberg
(Standesamt Pinneberg Nr. 74/1962)

oo 28.09.1909 in Kolberg

Martha Emma Margaretha SCHEUNEMANN
geb.07.10.1886
(Standesamt Kolberg Nr. 118/1909)
gest.30.03.1945 Bremen-Lesum
(beerdigt Friedhof Bremen-Lesum, Grabstelle Feld 29 Reihe 2 Grab 21)

1. Lehrerprüfung 20.8.1903 in Köslin/ Pommern
2. Lehrerprüfung 15.11.1911 in Pyritz / Pommern

1911-1945 Lehrer an der evangelischen Bürger-Knabenschule Kolberg
(später offiziell Schill-Schule)
1945-1947 Lehrer an der hiesigen Grundschule

Wohnorte: Kolberg, Riemannstr. 7 - seit mindestens 1929
Bremen-Lesum, Deichweg 8 - nach der Flucht im März 1945
Platjenwerbe, Dorfstraße 6 - ab April 1945
Platjenwerbe, im Schulgebäude - ab Mai 1947
Platjenwerbe, Dorfstraße 4 - bis 1952

Verzogen am 24.05.1952 von Platjenwerbe, „Hauptstr. 2“ nach Pinneberg; letzte bekannte Anschrift: Pinneberg, Osterholder Allee 30

Kinder:

1. Dr.phil. Hans RATZMANN, geb.16.04.1911 Voigtshagen/ Naugard/ Pommern,
verschollen 2.WK, als Uffz. im Pionier-Btl 302 (letzte Nachricht: August 1944 Raum Dnjestr-Pruth-Bessarabien)

Studien-Assessor, promoviert 1939 Uni Greifswald,
Dissertation "Das Willensproblem bei Hugh Walpole"
veröffentlicht (3 Auflagen) bei Konrad Triltsch, Würzburg-Aumühle

2. Helmut RATZMANN, geb.09.03.1912 Kolberg,
vermißt als Ober-Gefr. im Artillerie-Rgt 1711 Anfang März 1945 im Raum Esztergom-Tabor-Gran, (letzte Nachricht: Ende Febr. 1945)


  • Die Personendaten haben wir von Ernst Schroeder - www.Kolberg-Körlin.de und aus dem Stadtarchiv Pinneberg - Ramcke@stadtverwaltung.pinneberg.de erhalten.

Bearbeitung Uta Bothe und Peter Branscheid - Platjenwerbe im März 2009


Niederschrift des Lehrers Reinhold Ratzmann

Dem Wunsche meines Gönners u. Wohltäters, Herrn Arnold Bruns, Bäckermeister u. Gastwirt in Platjenwerbe, nachkommend, soll nachstehend ein kurzesBild – ein Ausschnitt – meiner persönlichen Erlebnisse, Eindrücke und Gedanken aus der Zeit der Zusammenbruchs des “Dritten Reiches” bis zur Gegenwart gegeben werden.
Meine Heimat ist Pommern, von dem Kindermund in der Maienzeit singt: „Maikäfer, fliege! Vater ist im Kriege; Mutter ist in Pommernland; Pommernland ist abgebrannt. Maikäufer, fliege!“ –Auch ich habe als Kind dieses Verslein dem die Flügel zum Fluge spreizenden Maikäfer auf meiner Hand oft zugesungen, ohne dabei im geringsten ahnen zu können, daß mein Pommerland einst „abbrennen“, durch Kriegseinwirkung in Schutt u. Trümmer, zur Einöde verwandelt werden sollte. Leider ist es Wirklichkeit geworden.

Dem Wunsche meines Gönners u. Wohltäters, Herrn Arnold Bruns, Bäckermeister u. Gastwirt in Platjenwerbe, nachkommend, soll nachstehend ein kurzes Bild – ein Ausschnitt – meiner persönlichen Erlebnisse, Eindrücke und Gedanken aus der Zeit der Zusammenbruchs des “Dritten Reiches” bis zur Gegenwart gegeben werden.

Meine Heimat ist Pommern, von dem Kindermund in der Maienzeit singt: „Maikäfer, fliege! Vater ist im Kriege; Mutter ist in Pommernland; Pommernland ist abgebrannt. Maikäufer, fliege!“ –Auch ich habe als Kind dieses Verslein dem die Flügel zum Fluge spreizenden Maikäfer aufmeiner Hand oft zugesungen, ohne dabei im geringsten ahnen zu können, daß mein Pommerland einst „abbrennen“, durch Kriegseinwirkung in Schutt u. Trümmer, zur Einöde verwandelt werden sollte. Leider ist es Wirklichkeit geworden.

Nach Augenzeugenberichten liegen heute noch die Felder unbenutzt da; viele ländliche Ortschaften u. die meisten mittleren u. großen Städte sind zerstört. Die Verwüstung meiner Heimatstadt, Ostseebad Kolberg, der schönste u. besuchteste Kurort am baltischen Meer, habe ich 9 Tage lang mit erlebt. Kolberg, einst eine Stadt mit 40 000 Einwohnern, ist heute unter polnischer Herrschaft ein Dorf mit angeblich 2 000 Bewohnern. Nur einzelne Häuser in den Vorstädten sind erhalten geblieben; die Innenstadt ist ein einziger Trümmerhaufen wie so viele große und schöne Städte unseres lieben Vaterlandes.<br<

Es war in den Vormittagsstunden – Sonntag 4.3.45 – als die ersten unerwarteten russischen Granaten das Stadtinnere erreichten u. gleichzeitig eine Anzahl Tote u. Verwundete verursachten. Kolberg, eine offene Stadt, ohne die geringsten Befestigungsanlagen, ward zur Festung erklärt u. sollte auf Befehl wie 1807 bis zum letzten Stein verteidigt werden. Ein Verlassen derStadt war bis zur Einschließung von der Landseite aus bei Androhung strengster Strafe verboten.

Der spätere Abtransport der Bevölkerung, die durch Zuzug von Flüchtlingen auf 70 000 Menschen angewachsen war, erfolgte per Schiff vom Hafen aus, der unter feindlichem Feuer lag. Während der Beschießung der Stadt fand die Bevölkerung Schutz in Kellern u. Bunkern. Unsere Hausgemeinschaft – 33 Leute – darunter Greise, Kinder u. ein Säugling von 8 Wochen, war zusammengepfercht in den engen, dunklen u. feuchten Kellerräumen unseres Hauses Riemannstraße. In der neuntägigen Belagerung hatte sich der Russe bis zur vorletzten Querstraße – etwa 150–180 m – herangearbeitet: daher befahl der „Festungskommandant die Räumung unserer Straße. Auf mein Fragen an den Befehlsüberbringer, wohin wir uns retten könnten, erwiderte man mit einem Achselzucken; Schlußfolgerung: „Rette sich, wer kann!“. Mit zwei in größter Eile u. Aufregung gepackten Koffern und etwas Handgepäck folgten meine Frau u. ich den Voraneilenden in Richtung Hafen, um aus der Hölle herauszukommen, der vor-, rück- und seitwärts einschlagenden Geschosse nicht achtend. Ein grausiges Bild der Kriegsverwüstung bot sich unseren Augen dar: zertrümmerte, ausgebrannte Häuser, verbarrikadierte Seitenstraßen mit aufgeschütteten Erdwällen, Schützengräben u. -löchern, umgehauene, zersplitterte Bäume, verbrannte Autos tote u. wild umherlaufende Pferde, tote Menschen, Verwundete, die uns nach der nächsten Krankensammelstelle fragten, Blutlachen im schmutzigen Schnee u. Schlamm, leere Konservenbüchsen, Flaschen, Papier, Stroh u. v. m. Unsere sonst so saubere Stadt war nicht wiederzuerkennen. In einem von den Bewohnern bereits verlassenen Hause in der Dünenstraße, nahe dem Hafen gelegen, fanden wir Unterkunft, trafen dort zufällig mit unseren Evakuierten aus Hagen i. W., Schwester meiner Frau, deren Tochter nebst zwei kleinen Kindern (4. u. 5. Jahre) zusammen. Sie hatten bereits früher unseren Keller verlassen, u. wir vermuteten sie längst in Sicherheit; sie blieben bis Bremen unsere Fahrt- u. Leidensgenossen.

In den Abendstunden schreckte uns ein Lärm auf der Straße aus dem Halbschlaf, in den wir immer sofort verfielen, wenn wir uns niedersetzten, auf: Menschen mit Koffern, Rucksäcken, Gepäck auf Handwagen ziehend, strömten nach dem Hafen; man sagte: Ein Schiff sei eingetroffen, Flüchtlinge abzuholen. Alle Müdigkeit vergessend, griffen wir in der Dunkelheit unsere wenigen Habseligkeiten u. schlossen uns dem Zuge an. Am Bollwerk des Hafens standen die Menschen dicht gedrängt, 12 – 15 Reihen hintereinander, wir in der letzten Reihe. Unsere Hoffnung auf ein Mitkommen hatten wir bereits angesichts dieser unabsehbaren Menschenmenge aufgegeben, als sich plötzlich – wie vom Herrgott als Schutzengel gesandt – ein baumlanger Marinesoldat zu uns gesellte u. sich anbot, unser Gepäck tragen zu wollen. Zunächst etwas mißtrauisch, doch wiederum erfreut über sein menschenfreundliches Anerbieten, übergaben wir ihm unsere beiden Koffer. Mit diesen in den Händen bahnte er sich einen Weg durch den Men-schenknäuel bis ans Bollwerk; meine Frau u. ich ihm auf den Fersen folgend u. gelangten so – für uns in dem Augenblick ein Wunder – in die erste Reihe. Ohne den Dank abzuwarten, war unser Wegbereiter verschwunden, wahrscheinlich aus dem Grunde, noch anderen das gleiche „Glück“ zu verschaffen. Wir kletterten nun schleunigst auf den bereitstehenden Prahm, der uns noch etwa 20 Minuten zu dem vor der Reede liegenden kleinen Stettiner Frachter „Greif“ brachte. Recht lebensgefährlich war das „Balanzieren“ auf dem schmalen, wackeligen Stege, den man passieren mußte, um auf den Frachter zu gelangen. Gott sei Dank, war die See nicht allzu bewegt; jedenfalls kamen wir ohne Unfall hinüber. Wie man sich später auf dem Schiff erzählte, sollen etliche Ungeschickte u. Aufgeregte ein kühles Bad dabei genommen, ja einige ein nasses Grab gefunden haben. Vom Verdeck des Frachters aus, das nun zwei Tage und 3 Nächte lang – Wind u. Wetter ausgesetzt – unser „Quartier“ war, sahen wir das an allen Ecken u. Enden brennende Kolberg. Die sprühenden Funken die hellauflodernden Flammen weit überragend; der Himmel blutigrot. Gespenstisch ragten die Fabrikschornsteine u. der Turm der katholischen Kirche aus dem Feuermeer hervor, ein Anblick, von dem ich in jener seelischen Verfassung nicht sagen konnte: Ist’s Wirklichkeit oder alles nur ein Traum. Leider aber war es die Wirklichkeit u. als solche unabänderlich; auch mein sonniges Heim liegt unter den Trümmern begraben. Die Erinnerung daran u. an jene, die dort einst um mich waren, erfüllt das Herz mit Wehmut und läßt mich nie wieder froh werden. Von der grauenvollen Fahrt über die Ostsee sei hier eines kleinenaber für mich wertvollen Erlebnisses gedacht.

Es war am zweiten Tage – gegen Mittag – unserer „Seefahrt“ als plötzlich von Mund zu Mund mein Name gerufen wurde. Nach meiner Erwiderung: „Hier steckt er!“ nahte sich mir eine Frau, in der einen Hand ein Pfund Butter, in der anderen eine Flasche Schnaps tragend, beides mir als Geschenk anbietend. Auf meine Frage, wie ich dazu käme, von einer mir doch fremden Frau solche Kostbarkeiten ohne Entgelt anzunehmen, erwiderte sie: „Herr R., Sie sind mir nicht freund; Sie haben vor langen Jahren meinen Sohn in Ihrer Klasse gehabt; er ist in Rußland vermißt wie auch Ihr Ältester. Längst wollte ich Ihnen meinen Dank zum Ausdruck bringen, bin aber nie dazu gekommen; jetzt ist der letzte Augenblick, da ich es noch kann; denn wer weiß es, ob wir uns jemals im Leben wiedersehen werden! “Und die gute Frau wird wohl Recht behalten, bis heute weiß keiner vom andern. Nebenbei sei bemerkt, daß ich jene Flasche bald darauf, während ich mich eines Augenblicks von meinem Gepäck entfernt hatte, entleert in meinem Rucksack vorfand: ein Alkoholfreund hatte ihr nicht widerstehen können; doch war ihm der Alkohol zu Kopf gestiegen u. hatte die bekannte Wirkung auf Hirn u. körperliche Haltung nicht verfehlt u. ihn dadurchentsprechend gekennzeichnet.

Daß es während der Fahrt eine Anzahl Tote gab – Alte u. Kranke, die den Anstrengungen u. Aufregungen, der Kälte u. Entbehrungen an Speis’n u. Trank nicht gewachsen waren – dürfte wohl selbstverständlich sein.

In Ueckermünde am Pommerschen Haff wurden wir ausgeladen und im Nachbardorfe Rambow untergebracht, um, wie uns gesagt wurde, am nächsten Tage weiter nach dem Westen abtransportiert zu werden. Da sich aber der Abtransport verzögerte u. wir wegen Überbelegung des Ortes mit Flüchtlingen nicht einmal ein Nachtlager hatten – wir verbrachten die beiden Nächte sitzend auf Stühlen in ungeheizten Zimmern im Halbschlaf – zogen wir es vor, auf eigenes Risiko nach Perleberg (Mark Brandenburg) zu fahren in der Hoffnung, dort bei Bekannten eine Zuflucht zu finden. Unter den damals üblichen Reisebeschwerlichkeiten dort angekommen, mußten wir eine große Enttäuschung erleben: das Quartieramt verweigerte die Zuzugsgenehmigung mit der Drohung, daß wir keine Lebensmittelmarken erhalten könnten; für die flüchtigen Pommern sei der Gau Weser-Ems zuständig u. wir müßten sofort weiter reisen. Nachdem wir die Nacht auf Stroh in einem Massenquartier zugebracht hatten, schleppten wir uns zum Bahnhof zurück. Von Station zu Station ging es bei dauernder Fahrtunterbrechung wegen Fliegeralarmes u. Fliegerangriffen über Wittenberge, Dannenberg, Uelzen nach Bremen; hier trennten sich unsere vorhin erwähnten Verwandten aus Hagen i. W. ganz unerwartet von uns, um ihre Verwandten in Burgsteinfurt i. W. aufzusuchen.

So stand ich mit meiner schwer herzkranken Frau, die sich kaum noch auf den Beinen halten konnte, allein in einer mir vollständig unbekannten Großstadt vor der Frage: „Wohin u. wie nun weiter? “Im Wartesaal III. Kl. hatte die N. S. V. eine Betreuungsstelle für Flüchtlinge eingerichtet, deren Hilfe auch wir gezwungen waren anzunehmen. Dabei muß ich die hervorragend gute Organisation dieser Veranstaltung hervorheben: Ausgabe der Marken für Verpflegung, Nachtquartier u. a. sowie auch die Verabfolgung der Speisen erfolgte ohne langes Anstehen. Zum Frühstück erhielt jeder Flüchtling, der sich als solcher ausweisen konnte, drei Paar mit Butter bestrichene u. mit Wurst belegte Stullen u. Kaffee, zum Mittag ein nahrhaftes Eintopfgericht und zur Abendkost abermals die gleichen Stullen u. Kaffee oder Suppe. Die Bedienung durch Mitglieder der N. S.-Frauenschaft war in jeder Weise freundlich u. zuvorkommend. Weniger erfreulich war der fast andauernde Fliegeralarm mit seinen Begleiterscheinungen, u. aufregend wirkten die mehrmaligen Fliegerangriffe. Unser dortiger Auf-enthalt war eine fast ständige Wanderung vom Wartesaal in den Bahnhofsbunker u. nach Entwarnung von dort zurück in den Wartesaal. Da in den Vormittagsstunden des Tages nach unserer Ankunft (21.3.45) die Eisenbahnbrücke über die Weser durch Fliegerbomben zerstört wurde, konnte eine Weiterleitung der in großer Anzahl angekommenen Flüchtlinge in das Olden-burger Land nicht mehr erfolgen. Alle meine Bemühungen, aus diesem Hexenkessel herauszukommen, waren vergeblich. Der Fliegerangriff am Freitag (23.3.45) gegen Mittag, bei dem auch der Bahnkörper über dem Bunker und die Vorhalle des Bahnhofs durch mehrere Bomben getroffen wurden, wird mir in seiner Schauerlichkeit unvergessen bleiben. Meine schwer leidende Frau war am Ende ihrer seelischen u. körperlichen Kraft; sie vermochte die vielen Stufen nicht mehr zu steigen u. konnte somit den Bunker nicht mehr verlassen; ärztliche und sonstige Hilfe suchte ich bei allen Dienststellen vergebens; ich war verzweifelt. Doch „wenn die Not am größten, ist Gottes Hilf’ am nächsten!“ In den ersten Abendstunden verbreitete sich im Bunker plötzlich das Gerücht, um 20 Uhr fahre ein Flüchtlingszug nach Vegesack, somit also Hoffnung, aus der Hölle Bremens herauszukommen.

Mit Aufbietung ihrer letzten Kraft u. mit meiner Unterstützung schleppte die Kranke sich auf den Bahnsteig Ic, wo bereits der Zug zur Abfahrt bereit stand u. von Flüchtlingen bestürmt wurde. Kaum hatte der Zug die Bahnhofshalle verlassen, als die Sirenen Voralarm gaben, dem bald Vollalarm folgte, wodurch die Fahrt aber nicht unterbrochen wurde. In Bremen-Lesum – noch spät abends im Saal der Gaststätte „Deutsches Haus“ von dem Amtsleiter der N. S. V. – Lehrer von Ahn – in damals üblicher Weise feierlichst begrüßt – erhielten wir Quartier bei Frau Frieda Hinke – Deichweg 8. Das Gefühl des Wohlbehagens war unbeschreiblich, als wir uns nach drei Wochen wieder einmal waschen, die verschmutzten Kleider vom Leibe ziehen u. die müden Glieder in einem Federbett ausstrecken konnten. Während wir die erste Nacht in zwei getrennt liegenden kleinen Dachkammern schliefen, wurde uns am nächsten Morgen nach näherem Bekanntwerden ein recht wohnlich ausgestattetes Zimmer mit 2 Betten angewiesen, das wir leider nur eine Woche lang bewohnen sollten. Denn bereits am nächsten Tage legte sich meine Frau, um vom Krankenlager nicht wieder aufzustehen. Die Nachwirkung der ausgestandenen Aufregungen u. übermenschlichen Anstrengungen u. Entbehrungen im Keller, auf der Fahrt zur See und mit der Eisenbahn, im Bunker des Bahnhofs in Bremen trat jetzt nach eingetretener Ruhe in Erscheinung. Erbetener ärztlicher Rat u. Hilfe (Dr. Stoeß – Lesum) vermochten den sichtbar werdenden Verfall der körperlichen Kräfte nicht aufzuhalten. In den Mittagsstunden des Karfreitag (30.3.45) mußte ich meiner treuen u. lieben Lebensgefährtin nach 36 Jahren glücklicher Ehe die Augen zum letzten Schlummer schließen und das in einem Augenblick, als in dem benachbarten Grambke über eine unschuldige Bevölkerung der Feind seine Bombenteppiche ausbreitete, deren Wirkung sich im Sterbezimmer durch Klirren der Fenster, Kalkspritzer von der Decke u. den Wänden, sowie Erschüttern der ganzen Häuser angst- u. schreckenerregend bemerkbar machte. Meiner seelischen Verfassung in jener Stunde des Schmerzes, der Rat- u. Hilflosigkeit soll hier nicht näher Ausdruck gegeben werden.

Bei Erledigung der durch den Todesfall hervorgerufenen geschäftlichen Angelegenheiten (Beschaffung eines Sarges, Beerdigung u. a.) war mir mein Nachbar u. Berufskamerad Hegemann sehr behilflich, seiner in Dankbarkeit zu gedenken wird mir stets Herzensbedürfnis bleiben. Die Ansprache des Geistlichen – Pastor Tönnies – bei der Trauerfeier in der Leichenhalle des Lesumer Friedhofes zeugte von einer gewissen Geschäftsmäßigkeit seines Berufes u. bedeutete keine seelische Stärkung für mich. Trost fand ich in der Folgezeit am Grabe meiner allzu früh Daheimgegangenen im stillen Gedenken der verflossenen Jahre u. im Glauben an die Wiedergeburt unseres erneut geknechteten deutschen Volkes und nicht zuletzt in der Hoffnung auf die Heimkehr meiner beiden Söhne, von denen ich annehme, daß sie in russische Kriegsgefangenschaft geraten sind.

Wenig freundlich, ja takt- u. lieblos empfand ich es, als mir meine Wirtin sofort nach der Einsargung meiner Frau mein Zimmer räumte u. mir eine jener vorhin bezeichnete Dachkammer als Quartier anwies. In Erinnerung der rückliegenden Wochen ließ ich es mir gefallen, dankte meinem Gott, daß ich wenigstens ein Bett als Nachtlager hatte.

Bis Mitte April war der Feind bedenklich nähergerückt; wiederholt schlugen seine Granaten ein; beispielsweise fielen zwei in den Garten meiner Wirtin, eine in den Garten des Nachbars Lehrer Hegemann¸ der Kirchturm erhielt Treffer, verschiedene Häuser in Lesum wurden durch Beschuß beschädigt; es gab Tote und Verwundete, Fliegeralarm war ständig. Vor dem Masch. Gewehrfeuer der Tiefflieger mußte man sich sehr in achtnehmen. Schutzräume(Keller) waren weder im Hause noch in der Nachbarschaft vorhanden. Man war seinem Schicksal auf gut Glück preisgegeben.

Schwierig war in diesen Tagen die Beschaffung von Lebensmitteln, besonders für mich, da ich ganz fremd am Orte war und mich bei Lebzeiten meiner Frau nie um wirtschaftliche Dinge zu kümmern brauchte, in dieser Hinsicht also auf Neuland stand. Wohl wurde die Bevölkerung nach Bekanntgabe durch Rundfunk u. Zeitung kurz vor dem Zusammenbruch mit 20 Pfund Roggen pro Kopf, Butter, Margarine, Nährmittel aller Art, Gemüse- u. Fleischkonserven bevorratet; aber das Schlangestehen vor den Geschäften war eine Qual. Kam man nach stundenlangem Warten in der Reihe endlich in den Laden zum Einkauf, dann war sehr oft die Wurst aus verkauft, u. fragte man bescheiden, wann man dieses oder jenes erhalten könne, dann erhielt man zur Antwort: „Das wissen wir auch nicht!“ – Brot war in Lesum überhaupt nicht zu bekommen, da sämtliche Bäcker aus irgendwelchen Gründen ihren Betrieb eingestellt hatten. Man ging frühmorgens bei Sonnenaufgang nach Burgdamm (Bäckerei Minkwitz) nach Platjenwerbe, St. Magnus, Grohn u. Vegesack, wartete dort vor den Bäckerläden stundenlang in der Schlage, um dann meistens ohne Brot heimzukehren. Zeitweise sahen sich die Bäcker gezwungen, „Nummern“ auszugeben, so hatte man zweimal das „Vergnügen“, nach einem Brot, manchmal wurde auch nur ein halbes verabfolgt, anzustehen. „Hunger tut weh!“ Eines Tages kommt die Nachbarin zu meiner Wirtin u. weiß zu berichten, in Ritterhude würde bei einem Bäcker Brot gegen Roggen umgetauscht; das veranlaßt mich, mit ihr mich auf den Weg dorthin zu begeben. Zwar regnet es in Strömen, aber der Hunger ist groß; selbst die Gefahr durch die Beschießung schreckt uns nicht zurück. Unterwegs sausen jaulend die Granaten über unsere Köpfe hinweg. Hunger u. Angst beflügeln den eilenden Fuß. Wir finden und betreten der ersehnten Bäckerladen; jeder stellt 10 Pfd. Roggen auf den Ladentisch u. erbittet Brot dafür. Antwort: „Brot ist ausverkauft!“ Ich bitte um ein halbes Brot, um eine Stulle, - umsonst. „Kommen Sie morgen vorm. um 10 Uhr, dann wird wieder Brot da sein! gibt uns das Ladenfräulein als Trost mit auf den Heimweg, den wir recht enttäuscht, ja verzweifelt antreten, aber jetzt gemessen Schritts zurücklegen. Bis auf die Haut durchnäßt, die Schuhe voll Wasser komme ich „zu Hause“ an, von der Wirtin dazu recht ungnädig empfangen, nicht nur, weil ich ohne Brot zurückkam, sondern der Roggen, den ich nicht ganz vor dem Regen schützen konnte, war unterwegs naßgeworden u. mußte doch wieder getrocknet werden, was doch „Umstände mache!“

Die Sorge um des Leibes Nahrung steigert sich: Mein kärglicher Mittagstisch im „Deutschen Hause“ wird mir gekündigt mit der Begründung, daß Speisen nur an Erwerbstätige verabfolgt werden sollen. Auf meinen Hinweis, daß ich als Flüchtling doch schuldlos, ja durch Kriegseinwirkung zur Untätigkeit gezwungen sei, erhielt ich von dem Wirt, Herrn (keine Namensangabe) zur Antwort, daß ginge ihn nichts an. Einige Tage später erschien der Feind u. belegte auch das „Deutsche Haus“.

Nach dem Zusammenbruch wurde die Ernährungslage nicht besser, sondern noch schlechter, auch mein kleiner Tabakvorrat ging zu Ende; ich wurde krank; mein altes Leberleiden stellte sich ein. Ich suchte den Arzt auf (Dr. Stöß), der hochgradige Unterernährung feststellte, worauf angeblich auch die Schmerzen in der Lebergegend zurückzuführen seien. Mein Körpergewicht von normal 175 Pfund war auf etwas über einen Zentner gesunken. Der Arzt gab mir an Stelle von Medizin den wohlgemeinten Rat, über Land zu gehen, um zusätzliche Lebensmittel zu erstehen u. nannte mir als nächstgelegenen Ort Platjenwerbe, das ich bis dahin nicht einmal dem Namen nach kannte; ich befolgte seinen Rat, ohne jedoch den allergeringsten Erfolg gehabt zu haben; eine Flasche für ev. zu erhaltende Milch brachte ich leer wieder zurück. Mit einer Schnitte trocken Brot u. einer Tasse schwarzen Kaffee im Magen war ich fortgegangen; gegen Mittag kehrte ich voll bitteren Zorns – ich hatte in einigen Haushaltungen Eier, Speck, volle u. angebrochene Weckgläser mit Fleisch gesehen, die vom Frühstück her noch auf dem Küchentisch standen oder aber für das Mittag bereit gestellt waren – zurück, halb ohnmächtig, der Verzweiflung nahe, warf ich mich auf mein Bett, meine Lage zu überdenken.

Das Pflichtgefühl als Vater meiner beiden Söhne gegenüber, mit deren Heimkehr ich damals noch rechnete, hielt mich vor einem übereilten Schritt zurück. Auch wurde in jener Zeit viel von einer baldigen Zurückführung der Flüchtlinge in ihre Heimat gesprochen. Listen zur Eintragung von Namen u. Wohnort warn bereits im Rathause in Lesum ausgelegt; Termin des Abtransportes wurden genannt. Nach Bekanntwerden der Potsdamer Beschlüsse – der „großen Vier“ – verstummten jedoch derartige Gerüchte; denn gar bald trafen Ausgewiesene aus den Gebieten jenseits der Oder-Neiße-Linie ein, deren Berichte über ihre Ausplünderung, ihre Behandlung durch Polen u. Russen, Zustände in der Heimat sich schnell verbreiteten u. die Hoffnung auf die Heimkehr in die ersehnte Heimat zunichte machten. So mußte jeder Flüchtling versuchen, irgendwo Beschäftigung zu suchen, um sich die Mittel fürden Lebensunterhalt zu erwerben; denn die für die Flucht mitgenommenen Barmittel schrumpften recht baldzusammen, u. die von den Fürsorgeämtern bewilligten Unterstützungen waren zu gering, um davon leben zu können.

In meiner großen Not gedachte ich meines Berufs; die Schulen waren geschlossen, dort war also nichts zu gewinnen. Daher versuchte ich, Nachhilfestunden erteilen zu können. Ich fand sie in der Fam. des Bauern Krudop in Platjenwerbe, dessen drei Jungen im Alter von 14, 13 u. 11 Jahren an zwei Vormittagen in der Woche gegen Entgelt von Frühstück u. Mittag Nachhilfeunterricht im Deutschen u. Rechnen von mir erhielten. Das war der „erste Schritt zur Besserung“ meiner Lebenslage. Nicht lange darauf fand ich gleiche Beschäftigung mit der gleichen Vergünstigung im Hause meines Wohltäters Bruns, dessen Sohn Johann mir seine beiden Jungen Arnold u. Berendt zur Förderung im Rechnen u. Deutschen anvertraute. So war mir schon sehr geholfen, nicht allein durch die zusätzliche Kost; ich hatte vor allem eine kleine Befriedigung in dem Gefühl, mich in der menschlichen Gesellschaft etwas nützlich machen zu können.

Das wenig freundliche Verhalten meiner Wirtin in Lesum, die gar zu dürftige Dachkammer, die zudem nicht heizbar war, meine Beschäftigung in Platjenwerbe veranlaßten mich, hier nach einem Quartier Ausschau zu halten; ich stellte dem Bürgermeister Wagschal meine Lage dar, der volles Verständnis zeigte u. mir ein Quartier bei dem Tischler Hinrich Hashagen anwies, wurde aber von dessen Frau zunächst strikte als Mieter abgewiesen mit der Begründung, sie sei herzkrank; außerdem habe sie mit ihren bisherigen Flüchtlingen, die vor wenigen Tagen ausgezogen seien, derart viele Unzuträglichkeiten gehabt, daß sie keine Flüchtlinge mehr in ihr Haus aufnehmen würde; aber bereits am nächsten Abend wurde ich von ihrem Mann persönlich in Lesum aufgesucht u. dahin verständigt, daß ich sofort zuziehen könne u. solle; der Bürgermeister habe die Absicht, falls er Hashagen mich nicht aufnehmen würde, ihm ein in jeder Beziehung anspruchsvolles Ehepaar als Mieter zuzuweisen. So siedelte ich am 23.7.45 nach Platjenwerbe über u. erhielt volle Pension von meinen Wirtsleuten. Das war ein weiterer Schritt zur Besserung meiner Lage.

Als nach dem Zusammenbruch sich im Laufe des Sommers allmählich wieder einigermaßen geordnete Zustände anbahnten – Eisenbahn und Postverkehr war zugelassen, wurde auch die Frage über die Wiedereröffnung des Schulunterrichtes akut. Wiederholt hatte man mich darauf hingewiesen, daß die beiden hiesigen Lehrer Koch und Schröder wegen ihrer Betätigung in der N.S.D.A.P.(ersterer als Ortsgruppenführer, letzterer Propagandaleiter) – z. Zt. in Haft – nie wieder hier ins Amt zurückkehren würden, ich solle mich doch um eine Stelle an der hiesigen Volksschule bewerben. Eine persönliche Rücksprache mit dem von der Mil. Reg. eingesetzten Landrat August Lange in Osterholz-Sch. hatte zur Folge, daß ich auf dessen Anraten ein schriftliches Gesuch um Verleihung einer Lehrerstelle im Kreise Osterholz einreichen solle; er wolle es befürwortend dem noch zu ernennenden Schulrat übergeben, was auch geschehen ist; denn am 17.9.45 wurde mir vom Schulrat Rathjen eine Lehrerstelle an der Volksschule in Platjenwerbe auf Widerruf u. vorbehaltlich Genehmigung durch die Militär-Reg. übertragen. Etwa 3 Wochen später kam der Bescheid, daß die Mil.-Reg. gegen meine Wiedereinstellung nichts einzuwenden habe.

Die Amtsgeschäfte der hiesigen Schule versah nach der Verhaftung der beiden ortsansässigen Lehrer die Lehrerin Frau Elisabeth Elfert, Ausgebombte aus Hamburg, die in Lesum bei Verwandten Zuflucht gefunden u. während der letzten beiden Kriegsjahre hier aushilfsweise beschäftigt war. Nach Wiedereröffnung des Unterrichts (10.9.45) siedelte sie mit ihrem Ehemann u. ihrer Habe nach Platjenwerbe über u. fand Wohnung im Schulhause; die bis dahin hier wohnenden Familiender Lehrer Koch u. Schröder wurden mit Genehmigung bzw. auf Anordnung der Schulbehörde heraus gesetzt. Die Wohnung der Fam. Schröder (I. Stockwerk) wurde mit Flüchtlingen belegt; in die beiden zur I. Lehrerstelle gehörigen Oberstuben zog ein älteres Ehepaar(Rentner Wickfelder). Nach Zuweisung einer dritten Lehrkraft, Frau Klavikowski, Flüchtling aus Westpr., hatte Mitte Okt. eine Flüchtlingsfamilie im I. Stockwerk zu räumen; die Ln. Klav. erhielt für ihren 2jährigen Sohn u. ihre Mutter 3 Zimmer zugewiesen.

Mir wurde als Dienstzimmer der Raum im Erdgeschoß rechts vom Eingang zur Verfügung gestellt, den ich aber nach einigen Wochen räumen mußte und inden die Fam. Wuscher – Ausgebombte aus Bremen – zog. Die Frau Wuscher übernahm die Reinigung und Heizung der Schulräume u. ward gleichzeitig die Aufwärterin der Frau Elfert.

Verwunderung in der Gemeinde u. Elternschaft rief es hervor, daß nach meiner Einstellung Frau E. die Amtsgeschäfte der Schule weiter führte; denn einen weiblichen Schulleiter hatte man bis dahin in Pl. nie gekannt. Als der älteren Lehrkraft, so meinte man, hätte die Schulbehörde die Leitung der Schule mir übertragen müssen. Das ist nicht geschehen; Frau Elfert hatte dem Schulrat berichtet, daß ich parteipolitisch belastet u. infolge dessen für eine leitende Stelleim Schuldienst untragbar sei. Um des lieben Friedens wegen verzichtete ich gern auf diese „Ehre“, benötigte sie auch nicht, hatte ich doch in meiner Heimatstadt Kolberg die dortige Schillschule – 8stufig – mit 18 Klassen u. ca. 22 Lehrkräften unter recht schwierigen Umständen während des Krieges zur vollsten Zufriedenheit der dortigen Schulbehörde und meines Kollegiums geleitet u. war über ein Jahrzehnt stellv. Schulleiter gewesen. Nach dien vielen seelischen Erschütterungen in der rückliegenden Zeit suchte ich nur Arbeit, gleich welcher Art, um Ablenkung in meinem Schmerz um dem Verlust meiner Familie, meines Heimes u. meiner Heimat zu haben, um gleichzeitig auch durch sie mein tägliches Brot zu erwerben, um somit nicht auf Almosen angewiesen zu sein. Nicht im geringsten habe ich Frau E. die Schulleitung streitig gemacht, weil sie schließlich bei einem System, wie unsere 3 Kl. Schule es ist, nichts zu bedeuten hat; Frau E. aber strebte nach dieser „Ehre“, weil sie nach den mir gegenüber zum Ausdruck gebrachten Worten „sehr ehrgeizig“ sei. Auch habe ich ihr bei den Amtsgeschäften als „Leiterin“ niemals Steine in den Weg gelegt, im Gegenteil, ich habe sie auf Grund meiner langjährigen Erfahrung im Schuldienste stets unterstützt u. ihr mit Rat u. Tat beigestanden, obwohl sie es hinsichtlich ihrer Charaktereigenschaften nicht verdient hätte. In der Folgezeit wurde ihre Stellung als Erzieherin der Jugend derartig, daß Eltern u. der Schulausschuß Beschwerde beim Schulrat einreichten, ja dort persönlich vorstellig geworden sind u. um ihre Versetzung nachgefragt haben. Dank ihres diplomatischen Geschicks in der Behandlung vorgesetzter Dienststellen ist es ihr gelungen, bis heute ihre Stellung zu halten.

Der Unterricht wurde nach dem Zusammenbruch mit der Grundschule – den 4 untersten Jahrgängen, am 10.9.45 eröffnet; etwa 3 Wochen später setzte auch der Unterrichtfür das 5. – 8. Schuljahr ein, das ich übernahm u. heute noch unterrichte. Während der letzten Kampfhandlungen, von denen auch unser Dorf nicht verschont blieb, waren die Klassenzimmer mit Truppen belegt, u. während der Sommermonate ward ein Klassenraum dem Kleinkindergarten zur Verfügung gestellt; daher erfolgte vor Wiederaufnahme des Unterrichts eine gründliche Reinigung u. Instandsetzung der Schulräume. Viele Lehrmittel, insbesondere physikalische Apparate, waren entwendet oder zerstört. Auf Anordnung der Schulbehörde hatte eine Durchsicht der Lehrer- u. Schülerbücherei zu erfolgen; alle Lehr- und Lernbücher, Schriften, Bilder, Tafeln u. sonstige Anschauungsmittel nationalsozialistischen Inhalts wurden herausgestellt u. dem Schulrat übersandt, der sie dann zum Einstampfen weiterleitete. So entstand für den Unterricht ein Mißstand, der heute nach 2 ½ Jahren noch nicht beseitig ist; die Kinder besitzen weder ein Lese-, Schreib-, Rechen- noch Realienbuch, was eine unbeschreibliche Erschwerung des Unterrichts bedeutet. Ein in einigen Exemplaren zur Verwendung übersandtes 4 bändiges Lesebuch wurde nach Jahresfrist wieder eingezogen. Neuerdings sind der Schule 5 Exemplare des in der russischen Zone eingeführten Lesebuches zugestellt mit dem Hinweis, daß weitere folgen sollen; bis heute aber warten Lehrer u. Schüler vergeblich darauf. Vor allem fehlt es auch an Schreibheften für die Schüler.

Die Kinder der vier oberen Jahrgänge sind gezwungen, ihre schriftlichen Arbeiten auf fliegenden Blättern anzufertigen, die sie sich teilweise auf der Schuttabladestelle (Sandgrube an der Siedlung) oder aus Mülleimern fremder Besatzungstruppen suchen. Um den Mangel an Schreibheften abzustellen, ordnete die Schulbehörde im Sommer 46 eine Altpapiersammlung für die Schulen an, mit dem Versprechen, daß für 1 Ztr. Altpapier 200 Schreibhefte geliefert würden. Mein 5. – 8. Schuljahr sammelte 2 ½ Ztr.; Jungen meiner Klasse brachten die beiden schweren Säcke auf Handwagen nach Bahnhof Burg zur Güterabfertigung. Eine Bestätigung des Eingangs der Sendung ist zwar erfolgt; aber Hefte wurden nicht geliefert. Die unteren Jahrgänge hatten oft weder Tafel noch Griffel; auch an Tinte, Stahlfedern, Kreide mangelt es recht häufig. Da die zu Beginn des Jahres bestellten Zeugnisvordrucke für die Ostern 1946 zu entlassenden Schüler erst vor den Sommerferien eintrafen, war ich gezwungen, diese Vordrucke auf der Schreibmaschine anfertigen zu lassen; das Papier dazu spendeten mir meine Wirtsleute.

Ein ähnliches Fiasko wie mit der Altpapiersammlung erlebte die Schule mit der von der Schulbehörde angeordneten Heilkräutersammlung im Sommer 1946. Die Kinder hatten viele Birken-, Brombeer-, Himbeer- u. Wegerichblätter gesammelt, die auf dem Schulboden bzw.auf dem Boden der Seidenschen Mühle getrocknet, in Säcken verpackt u. in der Findorffschule in Osterholz abgeliefert wurden. Jedoch wurde die laut Preisliste in Aussicht gestellte Vergütung nicht gewährt; die Schule erhielt sie erst nach mehrmaliger Erinnerung u. Beschwerde beim Schulrat im Frühjahr 1947. Mit den erhaltenen 70 RM u. 110 RM Beihilfe aus dem Wohlfahrtsfonds der Ge-meinde veranstaltete mein 5. – 8. Schuljahr im Sommer 1947 eine Dampferfahrt nach Bremerhaven, ein für die Schuljugend dauerndes Erlebnis.

Nach meinem Eintritt in diese hiesige Schule fand ich bei den Kindern eine kaum glaubliche Unwissenheit vor, was nicht etwa ein Vorwurf oder eine Anklage gegen meine Vorgänger sein soll, wenn ich dies hier erwähne. Die Rückständigkeit war vielmehr bedingt durch die Kriegseinwirkungen auf Schüler u. Elternhaus. Von einem geregelten Unterricht konnte wohl in den letzten Kriegsjahren kaum die Rede sein, Unterrichtsausfall durch häufigen Fliegeralarm und „Kohlenferien“. Und es war schwer, die Jugend ohne Anwendung des bisherigen Zuchtmittels an Haltung u. Ordnung in u. außer der Schule zu gewöhnen. Auch die Vereinigung von 4 Jahrgängen (Abteilungsunterricht) – ca. 60 Kinder – in einer Klasse u. der Unterricht in den gesammten Unterrichtsfächern war mir, da ich 35 Jahre lang an einem 8-stufigen System (1 Jahrgang in der Klasse) gearbeitet hatte, zu Anfang recht ungewohnt. Nach den von der Behörde neu aufgestellten Lehrplänen konnte ich mich nicht richten, fehlten doch einmal die geistigen Vorbedingungen der Schüler, zum andern die nötigen Lehrbücher, aus denen ich den vorgeschriebenen Unterrichtsstoff entnehmen konnte. Richtung u. Ziel für meine Arbeit gab mir meine 43jährige Erfahrung auf unterrichtlichem u. erzieherischen Gebiet u. ließ mir Stoffe bieten, die für das praktische Leben notwendig und für das seelische Leben wertvoll waren, u. ich darf wohl annehmen, auch unter Berücksichtigung der von Eltern ausgesprochenen Urteilen, den richtigen Weg gegangen zu sein.

Der allgemeine Gesundheitszustand unserer Kinder war während meiner hiesigen Tätigkeit recht zufriedenstellend; jedenfalls sind ansteckende Krankheiten nicht aufgetreten. Die Zahl der wegen Krankheit fehlenden Kinder hielt sich trotz der sehr mangelhaften Ernährung u. Bekleidung in den üblichen Grenzen. Wiederholt fanden Schutzimpfungen als Vorbeugungsmittel gegen Seuchengefahr statt. Mehrmals sind – namentlich im ersten Jahre nachdem Kriege – bei Mädchen Kopfläuse festgestellt worden. Für Abhilfe sorgte in diesen Fällen die hier am Orte tätige Wohlfahrtsschwester, Frau Harenborg (Ihrer sei dankbar gedacht, weil sie mir ein Oberbett leihweise zur Verfügung gestellt hat). Seit dem Sommer 1947 wird der Gesundheitszustand unserer Schulkinder durch den vom Gesundheitsamt des Kreises Osterholz-Sch. bestellten Arzt Dr. Schreuder überwacht. (Flüchtling aus Landsberg a. d. Warthe). Als Schularzt steht er den Eltern zur Beratung über beobachtete Gesundheitsstörungen ihrer Kinder einmal in der Woche (Freitag nachm. 3 – 4 Uhr) unentgeltlich zur Verfügung. Unfälle unserer Kinder bei Spiel, Sport, Turnen, Pausen, Schulwegen sind, Gott sei Dank, nicht vorgekommen.

Bevor ich weitere Punkte aus dem Schulleben berühre, will ich meines neuen Gastgebers durch einige Worte gedenken.

Der Winter 1946/47 war wohl einer der härtesten seit vielen Jahrzehnten. Not u. Elend durch Hunger u. Frost waren unbeschreiblich; ich selber habe in meinem Quartier, obwohl ich wirklich für Feuerung vorgesorgt hatte, sehr frieren müssen, zumal ich durch die zentral beheizte Wohnung in meiner Heimat recht verweichlicht bin; außerdem dürfte das Alter und die fettarme Kost im vergangenen Winter als Ursachen ebenfalls in Frage kommen; bin aber, Gott sei Dank, gesund geblieben. Die Schule war von Mitte Januar bis Ende März wegen Mangels an Heizmaterials geschlossen. Beim Bäcker, Fleischer u. Kaufmann standen bei bitterster Kälte die Menschen Schlage, auf Brot u. Nährmittel wartend. Kartoffeln u. sonstige Wintervorräte für Mensch u. Vieh waren in Kellern u. Mieten vielfach erfroren, Vorfälle, die meine Wirtsleute veranlaßten, mir die Beköstigung aufzusagen.

In dieser meiner Verlegenheit – nirgends am Orte war Beköstigung erhältlich – stand mir die Familie Bruns in rührender, hoch anzuerkennender Weise zur Seite, wie ich auch schon bis dahin von ihr mit Brot unterstützt wurde, wenn es nicht ausreichte. Am 1.5.47 gab ich mein Quartier auf und zog ins Schulhaus u. Bruns gewähren mir einen markenfreien Mittagstisch mit reichlicher, gutbürgerlicher Hausmannskost u. versorgten mich darüber hinaus zusätzlich mit Brot u. eigenen Erzeugnissen ihrer Wirtschaft. Nur der Normalverbraucher kann verstehen, was dies für die zeitweilig kümmerliche u. unzureichende Lebensmittelversorgung bedeutet. Dankbar erwähnt sei ferner, daß Bruns mir auch bei Einrichtung meiner „Junggesellenwirtschaft“ behilflich waren, indem sie mir Geschirr aus ihrem Haushalte zur Verfügung stellten. Diese mir gegenüber in selbstlosester Weise gewährte Gastfreundschaft wird auch vielen anderen Volksgenossen zu teil; denn fast bei jeder Mittagsmahlzeit ist ein hungriger Gast an unserem Tisch, der sich die Brunssche Kost wohlschmecken läßt. Das Wort der Schrift „Wohlzutun und mitzuteilen vergesset nicht“ wird selten so beherzigt und durch die Tat bewiesen als von der Familie Bruns. Sie kennt aber auch nur eines: Arbeiten und u. Schaffen in vorbildlicher Treue zur Pflicht, in Ehre u. Ehrlichkeit, in selbstloser Hingabe aller Kräfte zur Überwindung aller durch die Not der Zeit bedingten großen Schwierigkeiten u. Behinderungen im Bäckerei- u. Geschäftsbetrieb und das verdient in der gegenwärtigen Zeit des „Schwarzhandels“, des „schwarzen Marktes“ besondere Anerkennung u. Würdigung. Haus Bruns geht den „geraden Weg“, hält Freundschaft u. Friede mit den Nachbarn u. der gesamten Dorfgemeinschaft, ist allseitig beliebt, geachtet u. angesehen. Wenn ich nach meiner Beköstigung gefragt werde u. zur Antwort gebe: „Bin Mittagsgast bei Bruns“, dann höre ich aus aller Munde immer nur die gleiche Erwiderung: „Nun, dann sind Sie ganz gut aufgehoben“. Und dessen bin ich mir voll u. ganz bewußt, erkenne es bei jeder Mittagsmahlzeit; denn niemals bisher bin ich vom Mittagstisch unbefriedigt aufgestanden. Und dafür insbesondere der nimmer ruhenden, überaus gutherzigen Hausfrau, Frau Emilie Bruns, die, obwohl stets den Kopf voller geschäftlicher, wirtschaftlicher und mütterlicher Sorgen, sich immer gleich bleibt in ihrer Ruhe u. Freundlichkeit, Dank u. Anerkennung auszusprechen ist mir Herzensbedürfnis.

Hervorzuheben ist ferner, daß wir in weltanschaulicher u. politischer Hinsicht eines Sinnes sind u. in den vielen Unterhaltungen auf diesem Gebiet es nie bemerkenswerte Meinungsverschiedenheiten gab. Wohltuend wird es auf ein altes, durch Schicksalsschläge schwer geprüftes Herz, wenn ihm Verständnis u. Teilnahme entgegengebracht wird; beides habe ich in der Fam. Bruns gefunden u. bin ihr daher aus diesem Grunde dankbar. Meine guten Wünsche für das Haus Bruns brachte ich bereits gelegentlich der Silberhochzeit zum Ausdruck; heute, nachdem ich 8 Monate lang Tischgast war, kann ich sie nur in gesteigertem Maße hierwiederholen: „Gott schütze u. segne Haus und Familie Bruns!“

Platjenwerbe, am heiligen Weihnachtsabend 1947. R. Ratzmann.


Reinhold Ratzmann im Kreise seiner letzten Gastgeber in Platjenwerbe



Im August 2009 haben wir noch folgenden Bericht eines Zeitzeugen aus der Kolberger Zeitung vom November 1952 erhalten:


Die Revolution vom November 1918 in Kolberg

... in der Münderstraße liefen am nächsten Tag viele Menschen umher. Neugierige und Beunruhigte. Unter anderem sah ich eine Gruppe bekannter Zivilisten auf einem Haufen. Da kommt in Höhe von Tengelmann ein Offizier in voller Uniform. Es war unser bekannter Lehrer Ratzmann. Offiziere mit Schulterstücken, Degen und Kokarden waren damals für manche Leute ein rotes Tuch. Bei Kaufmann Ahrens, Kroneck gegenüber, stellte eine Gruppe von Zivilisten ihn zur Rede. Er selbst nahm Rückendeckung an der Wand und schaute sich die ihn bedrängenden Burschen an. Er sagte dann dem Sinne nach zu der Meute: "Ihr wollt mir die Uniform runterreißen? Ich werde Euch mal was sagen, das kommt nicht in Frage, denn ich habe eine Uniform an, die dem Staat gehört und dort, wo ich sie erhalten habe, liefere ich sie zu gegebener Zeit auch wieder ab. Im übrigen sollten Sie sich was schämen, mit solchem Ziel an mich heranzutreten. Ich bin Ihnen doch kein Unbekannter, und Sie, Sie sind doch erst bei mir in die Schule gegangen. Aber ich sehe, daß meine Bemühungen umsonst gewesen sind."
Genau so, wie sie an ihn herangegangen waren, zogen sie sich auch wieder von ihm mit beschämten Gesichtern zurück. Herr Ratzmann setzte seinen Weg fort, ohne noch einmal belästigt zu werden.