Euthanasie im Memelland

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Propaganda - Plakat, Rechtfertigung für die Ermordung von Menschen mit Behinderung
© Deutsches Historisches Museum

Euthanasie im Memelland

Bearbeiter: Holger Schimkus

Vorgeschichte

Es fing ja alles so harmlos an. Ein Ereignis, vor dem sich keiner von uns schützen kann. Das Schicksal wollte es so und hat ein vollkommen gesundes Kind 9 Monate nach seiner Geburt mit einer Gehirnentzündung, wie es hieß, krank gemacht. Sicher waren die ärztlichen Mittel und Erkenntnisse für eine wirksame Behandlung mit dem heutigen Wissensstand nicht vergleichbar. Es gibt manche Dinge, über die in der Verwandtschaft und im Freundeskreis aus Scham nicht gesprochen wurde und wird. 4 Kinder hatte diese Familie insgesamt. Trotzdem behielten sie dieses Kind bis zum 6. Lebensjahr bei sich. War der Anstoß zur ärztlichen Beurteilung und Einweisung in die Idiotenanstalt in der Schulpflicht zu suchen? Die Fähigkeit an einem Unterricht teilzunehmen war nicht gegeben. Der Junge war taubstumm und unsauber. Er sprach nicht und war in seinem Verhalten erheblich gestört. Keine der beteiligten Personen hätte gedacht, dass einmal das Leben dieses Kindes im Jahre 1940 und im Alter von knapp 17 Jahren gewaltsam endet.

Methodik der Vernichtung

In Abstimmung mit dem Gauleiter von Königsberg,[Erich Koch], wurden im Durchgangslager Soldau zwischen dem 21. Mai und dem 8. Juni 1940 1.558 geistig behinderte Menschen im Rahmen einer „Euthanasie“-Aktion ermordet. Koppe forderte anschließend von Redieß 10 Reichsmark pro Getötetem als Entschädigung für die Überlassung des „Lange-Kommandos“. Redieß, der sich bereits in Norwegen aufhielt, war nicht bereit, die Auslagen zu übernehmen, obwohl er selbst die Prämie für jeden Getöteten vereinbart hatte. SS-Hauptsturmführer Herbert Lange war der verantwortliche Nazi in Soldau. Dieses Kommando war im Besitz eines „Gaswagens“ als fahrbare Gaskammer, bei dem Kohlenmonoxid (CO) in die rückwärtige geschlossene Ladefläche des Lastkraftwagens geführt werden konnte.

Aus der vorliegenden Patientenakte geht hervor, dass er mit dem Datum 22.05.1940 angeblich aus der Heil- und Pflegeanstalt Tapiau entlassen wurde. Bei weiteren Recherchen stellte sich heraus, dass eine in den Akten angegebene Verlegung in eine „nichtostpr. Anstalt“ doch wohl in das Lager Soldau erfolgte. Die Verschleierung der jeweiligen Unterbringungsorte wurde bis zum Schluss beibehalten und sollte Angehörige von Kontaktaufnahmen fernhalten. So bleibt auch in diesem Fall der Ort Tapiau als letzter bekannter Ort übrig. Erst mit der Forschungsarbeit konnte meistens der endgültige Verbleib gefunden werden.

Er wurde am 22.5.1940 zusammen mit 201 anderen Patienten aus Tapiau und 218 Kranken aus anderen ostpreußischen Anstalten deportiert und gehörte wohl zu den allerersten Opfern weiterer Transporte.[1]. Sein Todestag ist sicherlich auch der Tag seiner Ankunft in Soldau.

Euthanasie

Der Begriff Euthanasie ist falsch gewählt und verschleiert nur! Der als "Euthanasie" bezeichnete Mord an den Menschen ist klinisch sauber gemacht worden. Die kranken Menschen waren nach NS-Ideologie als "nicht lebenswert" eingestuft. Aus der ursprünglichen Bedeutung des Wortes "Euthanasie" vom "guten" oder "schönen Tod" wurde im NS-Regime die Pflicht des Staates abgeleitet, sich der von den Nationalsozialisten als "Defektmenschen" und "Ballastexistenzen" titulierten Behinderten zu entledigen.
Weitere Information über die Euthanasie kann hier abgefragt werden: Deutsches Historisches Museum, Berlin - Euthanasie

Stationen des Grauens

Idiotenanstalt Bachmann

Bachmann vor der Renovierung

Für damalige Verhältnisse wurde diese Anstalt bis zum Wirksamwerden der Nazi-Gesetze in Ostpreußen ordentlich geführt. Die Art der Behandlung von geistig Behinderten Menschen entsprach dem wissenschaftlichen Stand der Zeit. In Bachmann haben sich, soweit sie es konnten, die Patienten gegenseitig geholfen. Sie haben gefüttert, miteinander gespielt und Hilfeleistungen erbracht. Das ließ sich aus der Patientenakte herauslesen. Die ärztliche Bereuung funktionierte und lässt bis 1939 kein Zweifel an der verantwortungsvollen Arbeit des Personals aufkommen. Ab 1939 wurde Bachmann geräumt. Die Patienten wurden nach Tapiau verlegt. Die Anschlussnutzung der freigewordenen Liegenschaft ist mir nicht bekannt.

Heil und Pflegeanstalt Tapiau

Heil u. Pflegeanstalt Tapiau

Diese Anstalt war wirklich eine Heil- und Pflegeanstalt. Von ihnen gab es im Kaiserreich und danach einige in den Ländern des Reiches zu finden.
Die Heil- und Pflegeanstalt Tapiau, in der sich an die 2.000 Personen aufhielten, wurde bereits 1942 weitgehend geräumt und in ein Reserve-Lazarett umgewandelt, während die Pfleglinge zum Teil in der Landespflegeanstalt Uchtspringe, Kreis Gardelegen, unterkamen. Ein anderer Teil wurde mit einem Sonderzug von Königsberg aus einem unbekannten Ziel zugeführt, was vermutlich nichts Gutes für die Pfleglinge brachte.[2]. Ab ca. 1940 wurde Tapiau als "Verschleierungsstation" verwendet. Die Benachrichtigung der Angehörigen über diesen Aufenthaltsort verzögerte sich durch Absicht und Postversand. Bis Rückfragen der Angehörigen in Tapiau einliefen, konnte die Verwaltung weiter verzögern und "im Moment ist der Aufenthalt nicht bekannt, ist bereits verlegt... ...von weiteren Nachfragen ist im Moment Abstand zu nehmen." schreiben. Diese wie mit Blei belastete Bearbeitung verhinderte weitere Nachforschungen der Angehörigen.

Durchgangslager Soldau (Heute Działdowo, Polen)

Durchgangslager Soldau vormals Kaserne, dann SS-Lager und Tötungsanstalt

Im Februar 1940 entstand in Soldau ein Durchgangs-, Haft- und Vernichtungslager in einer ehemaligen Kaserne. Die Unterbringung war absolut unzureichend. Strohlager waren dürftig eingerichtet. Hygiene gab es nicht. Zwischen dem 21. Mai und dem 8. Juni 1940 wurden dort 1558 ostpreußische Behinderte zusammen mit 300 aus Polen deportierten Geisteskranken in einer mobilen Gaskammer ermordet. Insgesamt durchliefen 200.000 Menschen das Soldauer Lager, von denen mindestens 10.000 ermordet wurden.
Die Vernichtung von Menschen stand noch in den Anfängen. Die „Sonder – Standesämter“ für die Registrierung der „Todesfälle“ und die Benachrichtigung durch Todesfallanzeigen, gesendet an die Angehörigen gab es hier offensichtlich noch nicht. Ortsangaben und Todesarten wurden, wie die Namen der beurkundenden Beamten, ohnehin gefälscht.
Erste Experimente zur "kostengünstigen und schnellen" Tötung fanden zwischen Ende 1939 und Juni 1940 in Polen statt. Das "Sonderkommando Lange" benutzte einen LKW-Anhänger mit der Beschriftung "Kaiser's Kaffee". In dieser fahrbaren Gaskammer wurden geistig Behinderte aus dem Warthegau, Danzig, Ostpreußen und Pommern getötet. Die Mörder benutzten Kohlenmonoxid-Gas aus Gasflaschen. Diese Methode wurde später auch in den Gaskammern der Aktion T4 (Euthanasie) angewandt.
Von hier aus wurde der Transport der Leichen in den Wald von Bialutten vorgenommen. Dort befinden sich die Massengräber und es ist eine Gedenkstätte eingerichtet worden.

[Zur Seite der Gedenkstätte]

Familienforscher

Ob es überhaupt möglich ist, ein genaues Todesdatum in Erfahrung zu bringen, wird von den Mitarbeitern der Gedenkstätten bezweifelt. Auch den Wahrheitsgehalt bei der Todesart, dem Todesort und dem Sterbetag muss man anzweifeln, sofern eine schriftliche Benachrichtigung der Angehörigen erfolgte. Die Todesfallanzeigen, sofern ausgestellt, waren sogar mit einer falschen Unterschrift versehen. Die Sonder-Standesämter hatten eine Übersichtstafel, auf der die verwendeten Todesarten mit Nadeln markiert wurden. So wollte man eine zu häufige und auffällige Verwendung einzelner Todesarten verhindern. Mit Bezug auf die über Jahrzehnte angesammelte Erfahrung mit Archiven aus der NS-Zeit, wird davon ausgegangen, dass die Krankenakte aus dem Bundesarchiv mit der letzten „Verlegung“ endet. Die Beendigung der Eintragungen weist darauf hin, dass weitere Dokumente dazu fehlen, bzw. nicht angefertigt worden sind. Das Sonderkommando „Lange“ in Soldau nicht viel dokumentiert hat – es ging auch um Vertuschung, praktisch im rechtsfreien Raum. Für die ersten 1.558 Opfer konnten bisher noch keine „Todesfallanzeigen“ gefunden werden. Trotzdem sollte der Bürokratismus auch hier funktioniert haben. Die zuständigen Behörden brauchten letztlich etwas in Schriftform. Wie zum Beispiel sollte sonst die getötete Person aus den Registern der Meldeämter gelöscht werden?

Für den Familienforscher bleibt nur das Datum der letzten Eintragung in der Patientenakte als Todesdatum anzunehmen. In gleich gelagerten Fällen wird wohl der Satz erscheinen: „Wird früh nach einer nichtostpr. Anstalt überführt“. Gräber dürften nicht auffindbar sein. Sollte der Leser dieser Zeilen weiterführende Erkenntnisse haben, bittet Portal Memelland um Mitteilung oder Kontakt.

Bundesarchiv Berlin

Das Bundesarchiv verwahrt 30.000 von ursprünglich gut 70.000 Patientenakten der ersten Phase der "Euthanasie"-Aktion im Dritten Reich. Es handelt sich um die Akten der zwischen Januar 1940 und August 1941 in sechs Tötungsanstalten ermordeten Insassen von Heil- und Pflegeanstalten.
Das Bundesarchiv in Berlin [3] erteilt Auskunft über eventuell vorhandene Patientenakten. Dazu verlangt sie den Nachweis der Verwandtschaft durch Vorlage von (unbeglaubigten) Urkunden, wie Geburtsurkunden, nachzuweisen, dass man mit dem Gesuchten verwandt ist. Sollten engste Familienangehörige, wie Geschwister noch leben, müssen diese zunächst schriftlich zustimmen, dass die Unterlagen ausgehändigt werden dürfen. Diese Maßnahmen sind notwendig, da die Patientenakten mitunter sehr intime Informationen über die Betreffenden enthalten, die nicht für Dritte zugänglich sind. Auf Wunsch erfolgt eine Reproduktion der Akte kostenpflichtig über die für das Bundesarchiv tätige Firma Selke. Sie haben selbstverständlich auch die Möglichkeit vorab die Akte hier im Lesesaal des Bundesarchivs in Berlin-Lichterfelde einzusehen. Für den Fall einer Aktenkopie ist die Mitteilung über die Postadresse (Empfänger) erforderlich.

Diese Seite enthält viele Opfer. Vielleicht findet sich hier schon der Gesuchte. Das Geburtsdatum, Vor-, Mädchen- und Familienname wird angegeben: iaapa.org.il
Stand 2013

Die iaapa.org.il ist bis zur rechtlichen Abklärung, wieder die Opfernamen veröffentlichen zu dürfen, abgeschaltet worden. Die Diskussion über die Veröffentlichung der Namen der Euthanasie - Opfer hat in der Bundesrepublik noch zu keinem Ergebnis geführt. Angeblich sollen die Rechte der Hinterbliebenen geschützt werden, nicht mit möglicherweise weitergegebenen Erbkrankheiten ihrer ermordeten Familienangehörigen in Verbindung gebracht zu werden.
Stand 2016

Betroffene, die nach dem dem Verbleib eines Angehörigen suchen, mögen sich direkt an das Bundesarchiv in Berlin wenden und dort die Krankenakte anfordern: www.bundesarchiv.de

Einzelnachweise

  1. Quelle: Gedenkstätte Sachsenhausen [1]
  2. Quelle: Ostpreußen.net[2]
  3. Bundesarchiv Berlin [3]