Volksschulwesen des Memellandes

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Ein Bild von dem memelländischen Volksschulwesen um 1850

In einer Krisenzeit wie der jetzigen, in der auch an der Volksbildung aufs äußerste gespart werden muß, ist es gut, aus älteren Berichten zu lernen. Pfarrer Rademacher gibt von dem Volksschulwesen im Kirchspiel Ruß um die Mitte des vorigen Jahrhunderts folgendes Bild: „Das Volksschulwesen steht in unserem Kirchspiel auf einer sehr niedrigen, ja, geradezu auf der niedrigsten Stufe im Kreise. Die Schuld daran tragen zum Teil die lokalen Verhältnisse, zum Teil der karge Sold der Lehrer. Der Schaktarp, eine für unsere Gegend eigentümliche Erscheinung, wo es nicht hält und nicht bricht, mit seinen Vor- und Nachwehen auf den überstauten Wiesen, dehnt die Osterferien ganz gewöhnlich auf vier bis sechs Wochen, die Weihnachtsferien häufig auf vier Wochen aus. Die Jodekrandt gleicht in dieser Zeit eher einem Froschpfuhl als einer menschlichen Wohnstätte. Nur Kinder, die hier geboren und groß geworden sind, vermögen über den schlüpfrigen, schlammbedeckten, schwankenden Boden und Torfgrund zu gleiten und über die Wege zu klettern. Schulen in anderen Kirchspielen haben vor der unserigen wenigstens vier Wochen Unterrichtszeit voraus. Hindernd tritt aber auch der karge Sold der Lehrer ein. Sie empfangen meistens alle statt der Nationalkalende ein Brotgeld, das in gar keinem Verhältnis zu den jetzt herrschenden teueren Brotpreisen steht. Sie haben demnach sich zuviel mit den Sorgen des täglichen Unterhaltes zu quälen und sich abzumühen, als daß sie die rechte Begeisterung für ihre Schul- und Arbeitsstätte haben könnten. Sie müssen ohne einen anderen Erwerbszweig geradezu hungern und haben daher auch alle eine Nebeneinnahme. Wiesenberg ist Grundbesitzer und Tischler, Heidek züchtet Bienen auf seiner Kate und schwingt den Hammer, Kobillus ist Riemer, Schwerdter Grundbesitzer, Deiwiks mit dem langen demokratischen Barte, den er bei fünf Mark Ordnungsstrafe abschneiden mußte, besitzt auch Land, Schweiger hat Privatvermögen und Wiesen. Am 17. Oktober 1856 ist nun endlich, auf Anordnung der Königlichen Regierung, von dem Landrat Degen unter Zuziehung des Superintendenten Peteaux eine Versammlung im Kantorat abgehalten worden, um die Schulen nach dem neuen Gesetz zu regulieren. Die Skirwiether hatten sich bei dieser Gelegenheit etwas eingetrunken und erhoben ein großes Geschrei, die anderen unterschrieben meistens willig die Recesse, und es steht zu hoffen, daß mit dem neuen Jahre die Lage unserer Lehrer nicht mehr eine so gedrückte und sorgenvolle sein wird. Die Kirchschule kann mit einer Ober- und einer Unterklasse auch nicht das Nötige leisten, es müßten durchaus drei Lehrer mit einer Mittelklasse angestellt werden. Es hat sich daher im Orte das Bedürfnis nach einer Privatschule ausgesprochen. Fräulein L. unterrichtet seit langem kleine Kinder mit gutem Erfolg im Lesen und Schreiben. Sie reißt ihnen mitunter stark an den Ohren, aber welcher Lehrer tut das nicht ? Der Theologe Tietz etablierte hier eine Gelehrtenschule. Er besaß viel methodisches Talent, einen eisernen ausdauernden Fleiß und schwang die Fuchtel rücksichtslos. Es gelang ihm daher auch, seine Zöglinge in die Tertia des Gymnasiums hineinzupauken. Durchgreifend allgemein und gründlich vorgebildet waren sie aber nicht, nur die lateinische und griechische Grammatik hatten sie in Fleisch und Blut aufgenommen. Nach seiner Versetzung nach Tilsit kam der Gymnasial-Oberlehrer Skrodzky aus Lyck hierher, ein Mann, der die glänzendsten Zeugnisse aufzuweisen hat. Er ist sehr streng und gewissenhaft in der Erfüllung seiner Pflicht, nur milder in der Ausübung der Disziplin als sein Vorgänger. Seine Methode ist auf keine Ostentation, sondern auf Gründlichkeit basiert. Väter und Mütter machen ihm viel zu schaffen, und gewiß wird er Gott danken, wenn er einen Ruf als Oberlehrer erhält.“


Die Volksschullehrer wurden am Anfang des vorigen Jahrhunderts noch von Geistlichen herangebildet. Der auf diese Weise vorgebildete Lehrer Wiesenberg, der nebenbei, wie damals üblich, noch ein Handwerk betrieb und auch sonst sehr rührig war, erfreute sich in der Gemeinde Ruß allgemeiner Beliebtheit, denn es wird von ihm berichtet: „Wenn man von dem Schüler auf den Lehrer schließen kann, so muß Marks ein in jeder Beziehung ausgezeichneter Mensch gewesen sein. Sein Schüler und Gehilfe war nämlich der Lehrer Wiesenberg. Dieser wurde in Neukirch bei dem Superintendenten Meyer vorgebildet und kam, zwanzig Jahre alt, im Jahre 1820 zu Pfarrer Marks nach Ruß. Ich halte diesen Mann in der Gemeinde Ruß für den allerbesten , und er will, wie er es mir oft gesagt hat, alle seine Vorzüge und seine ganze Charakterbildung nur seinem Lehrer Marks zu verdanken haben. Wiesenberg ist als langjähriger Lehrer der vertrauteste Freund der ganzen Gemeinde, deren Jugend er in wahrhaftiger christlicher Frömmigkeit erzieht. Kein Sterbender macht sein Testament, wo er ihn nicht als zuverlässigsten Zeugen hinzuzieht. Kein Kranker schickt nach dem Arzte, ehe er ihn nicht berufen und ihm zuvor seinen Zustand geklagt hat. Er ist Tischler und macht den Toten, denen er auf dem Sterbelager noch Trost zugesprochen hat, mit denen er gesungen und gebetet hat, auch das letzte Haus und begleitet sie zum Grabe. Er besitzt Kenntnisse in der niedrigen Chirurgie, und Kranke kommen von weit und breit zu ihm, er setzt ihnen Schropfköpfe und läßt sie zur Ader. Sie haben zu ihm mehr Vertrauen als zum Arzt. Er ist in seinen Verhältnissen auch ein ausgezeichneter Vieharzt, besitzt die nötigen Instrumente und hat schon manchem Armen und manchem Reichen Kuh und Pferd gerettet. Er nimmt nie eine Bezahlung und leistet seine Dienste in aller Demut. Bei der Verheiratung seiner Tochter sammelte der Wirt Adam Sondler Beiträge für ihn. Es kamen sehr bald hundert Mark zusammen, die man ihm überreichte und die er als Pfand der Liebe von der Gemeinde in Empfang nahm. Möge dieser Mann noch lange zum Segen der Gemeinde leben und Gott ihm ein reichliches und kummerfreies Auskommen bei herannahendem Alter geben.“


Lehrer Wiesenberg starb am 27. März 1857 an einer Krankheit, die er sich am Krankenlager eines von ihm Gepflegten zugezogen hatte. Sein Begräbnis war eine große Trauerfeier für die ganze Gegend. [Enn.]

Quelle

Memeler Dampfboot, Beilage: Der Grenzgarten: Heimatkundliche Beiträge aus dem Memelgebiet und den Grenzgebieten, Ausgabe 1933 Nr.1 (27.01.1933).