Neu Lubönen/Flucht

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Erinnerungen nach 60 Jahren an die Flucht aus Memelwalde


Von Manfred Bethke


Hirschflur Flucht.jpg


An den Händen unserer Mütter behütet und geführt.
Ihnen unsere Achtung und Ehrfurcht stets gebührt.
Wie Tiere dann zusammengetrieben in Brakupönen.

Von der Ostsee bis zur Rominter Heide. Vom Memelland bis Masuren.
Abgenommen hat man uns alle Uhren.
Eine Kirchenglocke, zwischen zwei Bäumen vor der Lagerkommandantur, war unsere Uhr.
Der Tag begann und endete mit Kirchenglockentönen.
Eine Oberkommandantur residierte in einem großen Gutshaus mit großen Parkanlagen,
Westlich von Brakupönen, in Richtung Warkallen.

Dort hatte die gefürchtete “GPU” ihr Quartier.
Wir Kinder spielten Feuerwerker mit Handgranaten, Gewehr-, Panzer- und Geschützmunition.

Wir machten Feuer mit Glaslinsen aus Zieleinrichtungen der Kriegstechnik
Und Pulverstangen aus Panzergranaten, weil wir Streichhülzer nicht hatten.
Unsere Mütter haben tote Soldaten und Tiere begraben,
Bunker, Schützengräben und Granattrichter verfüllt.

Wir haben schwer gebüßt für Naziverbrechen,
Als Faschisten wurden wir beschimpft,

Wir waren die gehaßten “Njemze” (Deutschen).
Ostpreußen war vergessen vom Deutschen Reich.

Hier konnten die Sieger an Müttern und Kindern sich rächen.

Einige entwichen aus dem Lager allein.
Den Standort der Posten verrieten Machorkaschwaden (Tabakrauch).
Die Häscher jedoch holten sie oft ein.
Sie wuren nach Kussen ins Straflager gebracht.
Von dort zu entweichen haben noch weniger geschafft.
Wie mir bekannt war einer davon Alfred Kohnke aus dem Samland.
Die Brandstifter hatten sich in Sicherheit gebracht und uns alleine gelassen.
So lernten wir den Krieg und seine Folgen hassen.
Mütter und Kinder in größter Not.
Hungernd und krank, schwer gearbeitet für wenig Brot.

Was Kugelhagel und Granaten nicht geschafft, haben Hunger und Typhus hinweggerafft.

Reiche Ernte machte der Tod.
Im Lager wurden Rinder und Schweine gehalten.

Für uns gab es aber weder Milch noch Fleisch.
Feldarbeiten, von Frühling bis in den Winter, machten unsere Mütter und wir Kinder.

Wir fuhren Ochsen- und Pferdewagen, mit Stalldung oder Baumaterial beladen.
Frauen den Pflug auf den Feldern führten.
Wir Kinder die Pferde an der Leine hielten.
Auf den Feldern wurden Disteln gestochen und Kartoffeln gehackt.

Von Posten mit Pistolen wir wurden bewacht.
Von der Ernte für uns sehr wenig blieb.

Der Hunger machte uns zum Dieb.
Auf Lastwagen wurde der größte Teil davongefahren.
Wohin, haben wir nie erfahren.
Der Rest auf Haufen gesammelt, von Posten bewacht,

Bei Regen und Frost dann vergammelt.


Waren Kontrollen und Durchsuchung vorbei und etwas vom Zapzerap (Gestohlenem) geblieben, was sehr, sehr selten war, dann gab es paar Körner, Korn, Gerste oder Hafer gekocht oder auf Herdplatten geröstet und manchmal auch als Brei. Gefrorene Kartoffeln, Möhren oder Rüben wurden dünn geschnitten und auf Herdplatten gebraten. Grüne Erbsen aus dem Haferfeld, im Beutel über den Zaun des Quarantänelagers geworfen, haben unserer typhuskranken Mutter das Überleben ermöglicht.

Spatzen, Stare, Schwalben, Krähen, Störche, Wildenten, Tauben, junge Hasen, alles, was nur greifbar war, wurde verspeist. Bei der Kartoffelernte wurden im brennenden Kartoffelkraut, wenn der Posten abgelenkt war, auch mal schnell einige Kartoffeln im Feuer gebacken. Brennessel und Melde, gewürzt mit Meerrettich, Sauerampfer, Knoblauch, Schnittlauch und wildem Kümmel. Salz hatten wir nicht.

Kielkes und Schlunz, von schwarzem Kartoffelmehl aus verfaulten Kartoffeln gekocht und Pliezkes gebacken, konnte nicht jeder vertragen, füllte aber unseren stets hungrigen Magen. Katzen und Hunde waren alle verspeist. Im Frühling suchten wir Brutgelege von Vögeln und Enten. Sauerampfer mit Vogeleiern war eine Delikatesse. Obst und Beeren haben wir aus den Gärten geholt. Gemüse gab es nur bei der Erntezeit roh. Tomaten, Möhren oder Gurken. Weißkohl auch mal gekocht.

Im Winter haben wir aus Silofutter die Weißkohlblätter gegessen. Von Frühjahr bis Spätherbst fingen wir in selbstgebauten Reusen Karauschen. Wir waren verlaust, schmutzig, ohne Seife und ständig von Ratten besucht. Strom gab es nur für Russen. Mit Taglichtende war der Lagerort im Dunkeln. [1]


Quellen

  1. Bericht von Manfred Bethke aus Memelwalde, geschrieben in Narsdorf 2005, erschienen im Heimatrundbrief "Land an der Memel", Nr. 77 (Weihnachten 2005), Seite 79 - 84