Motzischken/Krieg

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Wappen von Pogegen

Motzischken

Krieg gegen die Sowjetunion (am 22. Juni 1941)
Bericht der Anita von Goldammer
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Motzischken, Krieg gegen die Sowjetunion am 22. Juni 1941


Der Hof Georg Buddrus in Motzischken, Sommer 1993


Brief der Anita von Goldammer (geb. Buddrus) aus Motzischken
an ihre Kinder:

Bad Wilsnack, im Jahre 1972

Lieber Kinder!

Heute möchte ich den beschwerlichen Weg unserer Flucht berichten. Hier habe ich Zeit, und es ist gut, wenn Ihr es wißt. Heute seid Ihr längst erwachsene Menschen und könnt vielleicht alles verstehen.

1939, als der Krieg mit Polen beendet war, hatten Euer Vater und ich geheiratet. Man hatte damals den Lehrern verlockende Angebote gemacht, in die von den Deutschen besetzten Ostgebiete zu gehen. Gott sei Dank, gelang es mir, mit Hilfe meiner Eltern, meinen Mann davon abzuhalten, denn alle diese Leute wurden später wieder von dort vertrieben.

Am 22. Juni 1941 begann der Krieg gegen die Sowjetunion. Im März 1941 bekam Euer Vater den Gestellungsbefehl. Uli mußte am Abend zuvor in die Klinik nach Tilsit eingeliefert werden. Er hatte plötzlich 40 Grad Fieber bekommen und mußte operiert werden. Wo Euer Vater hingekommen war, wußte ich nicht. Nach Monaten schrieb er dann aus Budweis (CSSR) , wo er “frontreif” gemacht wurde.

Kriegsvorbereitungen

Meine Wohnung mit den neuen Möbeln wurde bald darauf für Offiziere beschlagnahmt. Sie hatten mir einen ihrer Burschen geschickt und ließen sagen: “Falls Sie nicht freiwillig die Wohnungsschlüssel herausgeben, werden wir die Tür gewaltsam öffnen.” Von nun an gehörte die Wohnung ihnen. Seit Euer Vater beim Militär eingezogen war, wohnte ich bei meinen Eltern. Aber auch hier wurde dann alles mit Militär vollgestopft. In die größten Zimmer kam Heu und Stroh auf den Fußboden, und die Soldaten mußten wie die Heringe schlafen, dicht an dicht. Meine Eltern, Tante Herta und Tante Elfi und mich mit Uli hatten sie in ein Zimmer gepfercht.

Die Scheune und der Hof waren voll mit Militär belegt, und auch in den angrenzenden Wäldern wimmelte es von Soldaten. Auf dem Hof lag eine ganze Kompagnie, und in der Scheune war auch die Feldküche untergebracht. Und das schon im April 1941. Der Krieg begann ja erst am 22. Juni 1941. Die armen Kerle waren zum großen Teil von Calais und Dünkirchen in Nordfrankreich zu Fuß bis zu uns marschiert. Ihre Füße waren wund, viele liefen ohne Schuhe. Sie waren monatelang nur nachts marschiert. Der gewaltige Aufmarsch gegen Rußland mußte ja geheim bleiben.

Als sie früh in unsere Küche kamen und Wasser holten, wurden wir oft gefragt, wo sie sich eigentlich befänden. Sie hatten keine Ahnung, daß sie schon an der litauischen Grenze waren. So manch einer von ihnen erstarrte bei unserer Antwort, dies sei das Dorf Motzischken, und die litauisch-russische Grenze wäre nur eineinhalb bis ungefähr zwei Kilometer entfernt. Nun wurde ihnen alles klar.

Sofort begann man dann mit dem Ausbau unzähliger schwerer MG-Stellungen und Schützengräben, die ca. 2 bis 2,5 Meter tief waren. Im Korridor bei uns waren schwere Maschinengewehre aufgereiht. Auch wurden die Felder und Wälder kilometerweit gänzlich von Stellungsgräben durchwühlt. Nachts rollten ununterbrochen Fahrzeuge heran, die am Tag getarnt werden mußten. An Schlaf war dann bald nicht mehr zu denken. Kilometerweit hörte man das Fahren der Kolonnen und das dumpfe Rollen der Panzer und Kettenfahrzeuge, Nacht für Nacht. Am Tage war dann wieder alles getarnt.

Anfang Juni schrieb ich dann an Euren Vater einen Brief und schilderte durch die Blume, dass sich bei uns viel tun würde und es sicher nicht mehr lange dauern könnte. Als er den Brief in den Händen hielt, er war immer noch in Budweis, war der Krieg bei uns in vollem Gange.

Es geht los

Es war der 22. Juni 1941, um 3.05 Uhr morgens. Die Nacht war wundervoll warm und voller Blütenduft. Die Nachtigallen schlugen so schön wie nie zuvor. Unendlich viele gab es davon an den Ufern der Jura. Unser Bündel mit den nötigsten Sachen hatten wir fertig gepackt, aber die Soldaten trösteten uns immer und sagten,
so lange Zivilisten da wären, könnte es nicht so schlimm werden, man würde uns bestimmt nicht opfern.

Am Nachmittag des 21. Juni und am Abend vor dem großen Angriff wurde an die Soldaten Post verteilt. Uns fiel auf, daß mit einemmal ein eisiges Schweigen über alle kam, und daß sie kein Interesse an ihrer Post hatten und alles am Boden liegen ließen, ob gelesen oder ungelesen. Vorher war ab und zu leise Mundharmonikamusik zu hören gewesen, mal Lachen und Erzählen. Nun nichts als eisiges Schweigen. Dabei wimmelte es wie Ameisen von Militär.

Am Abend bekamen wir Befehl, das Haus nicht mehr zu verlassen. Darauf bat meine Mutter einen Offizier dringend, uns zu sagen, was vorginge. Er sagte nur kurz, daß der Krieg
früh um 3.00 Uhr anfangen würde. Gegen Mitternacht mußte mein Vater seine Pferde zur Verfügung stellen, um die Feldküche nach vorn zu fahren, damit ihre Militärpferde noch geschont würden. Es sollte auch alles geräuschlos sein.

Am Abend, als es dämmerte, wollte meine Mutter doch mal raus. Fast hätte man sie erschossen. Zum Glück blieb sie bei dem Anruf des Postens sofort stehen. Bei jedem Schatten vermuteten die Soldaten, es könnten feindliche Spione sein und hätten sofort scharf geschossen. Weinend und zitternd kam sie wieder ins Haus zurück. Wir alle flatterten und froren in jener Nacht, obwohl wir viele Schichten von Sachen angezogen hatten und uns kaum rühren konnten. Uli schlief im Kinderwagen tief und fest und mit Manfred war ich in anderen Umständen. Wir hatten uns mit Kleidern über die Betten geworfen und zählten Stunde um Stunde, Gongschlag um Gongschlag mit, und je näher die dritte Stunde kam, um so mehr zitterten wir.

Der Angriff

Dann schlug es eins - zwei - drei Uhr, und es blieb totenstill. Ganz tief holten wir Luft und sagten: “Gott sei Dank.” Aber schon in den nächsten Sekunden brach ein Kanonendonner los, und die Erde drohte zu bersten. Unzählige schwere Gewitter waren nichts dagegen. Das Haus schien uns in Sekunden zusammenzuklappen. Mein Vater, der den Ersten Weltkrieg mitgemacht hatte, schrie fassungslos: “Raus, raus!”
Und Elfi, die damals zehn Jahre alt war, schrie nur: “Nehmt Brot mit, nehmt Brot mit.”

Man kann das nicht beschreiben. Wir stürmten vor die Tür, ich den Kinderwagen mit Uli schwer bepackt vor mir schiebend. Die Soldaten aber standen in vollster Frontausrüstung, die Munitionsgürtel vier- bis fünffach um den Leib, über die Schulter, wo es nur hinging. Es waren die Munitionsketten für die Maschinengewehre. Stahlhelm auf dem Kopf, Gasmasken, ein langes Messer im Schaft usw. Uns durchfuhr es eiskalt. So hatten wir Soldaten noch nie gesehen. Sie versuchten uns zu beruhigen und sagten immer nur: “Ruhe bewahren.”
Dabei flatterten ihre Körper genau wie unsere.

Manch einem der Soldaten liefen die Tränen über die Wangen, dabei schauten sie unentwegt auf ihre Armbanduhren und zählten die Minuten. Kein Nachkriegsfilm wird diesen Feuerregen so bringen können, wie er wirklich war. Hier gab es keine Photographen, die dieses schaurige Drama festhalten konnten, wo Himmel und Erde zu versinken schienen.

Die schwere Artillerie schoß über uns hinweg. Um unseren Hof standen Flieger- und Panzerabwehrkanonen. Aus allen Rohren wurde gefeuert. Alle Waffengattungen, die es nur gab, wurden gleichzeitig eingesetzt. Zwischen dem ungeheuren Feuerregen sah man rote, gelbe und später auch grüne Kugeln am Horizont. Als die Soldaten die ersten grünen Kugeln erspähten, riefen sie laut: “Dem Himmel sei Dank!” Es bedeutete, dass die Front vorankam, wenn auch sehr langsam.

Der Tag danach

Es war ein wunderbarer Morgen. Der Himmel war blau, und die Sonne ging auf, als der Himmel sich plötzlich wieder verdunkelte. Auch die Sonne war dann für unsere Augen nicht mehr sichtbar. Durch den Qualm der unzähligen Geschosse wurden wir in eine Art Nebel gehüllt, nur daß dieser nach Pulver und ausgebrannten Patronenhülsen roch. Gleich waren feindliche Tiefflieger da, die mit Bordkanonen schossen und auch viele Bomben abwarfen. Wie durch ein Wunder sind wir nicht getroffen worden.

Um vier Uhr früh hatten wir die ersten Schwerverwundeten in unserem Zimmer, denn der Hauptverbandsplatz lag noch hinter unserem Hof. Sie waren bis zur Unkenntlichkeit mit Dreck und Blut bedeckt. Man hatte sie mit dem Motorrad im Beiwagen gebracht. Der eine hatte einen Schulterdurchschuß, ein anderer hatte einen völlig zertrümmerten Arm. Er war von einer Maschinengewehrsalve getroffen worden. Den leblosen, blutigen Arm hatte man auf einem dreckigen, ungehobelten Brett mit einem Strick umwickelt, um ihm so Halt zu geben. Für sie war der Krieg zu Ende. Ihre Heimat werden sie vielleicht nie wiedergesehen haben, da sie zu viel Blut verloren hatten.

Um sechs Uhr brachte dann endlich der Rundfunk, dass deutsche Truppen in Rußland einmarschiert seien. Wie harmlos das klang. Die Tatsache, daß wir Rußland angegriffen hatten, war entsetzlich. Noch am gleichen Vormittag fanden Luftkämpfe von Jagdfliegern über uns statt. Einer stürzte brennend ab, ein anderer zerschellte in der Luft und kam in großen Stücken herunter. Bomben fielen noch und noch und rissen große Krater. Aus Neugierde sammelten wir einige Bombensplitter ein, sie waren noch ganz heiß. Wir warfen sie aber dann doch weg. Die Bombensplitter waren ungefähr zehn Zentimeter lang und hatten viele spitze Kanten an den Seiten, die schärfer als Messer waren.

Mein Vater und Tante Herta wären um ein Haar getroffen worden. Immer und immer wieder wurden wir durch plötzliche Tieffliegerangriffe aufgeschreckt. Wir sollten keine Ruhe mehr finden, und die Sehnsucht nach Schlaf wurde immer größer. Der Traum schien uns damals unerfüllbar. Diese ungeheuere Sehnsucht nach tiefem Schlaf muß man selbst erlebt haben. Später konnten wir auf jedem Fußboden, ob Holz oder Zement, auch ohne was drunter, nur den Rucksack unter dem Kopf, schlafen. Die Hauptsache war, es kamen keine Angriffe, die uns aufschreckten.

Den Kanonendonner konnten wir noch monatelang vernehmen. Später wurde er dann immer ferner und ferner, bis eines Tages überhaupt nichts mehr zu hören war.

Dieser Bericht wurde von Anita von Goldammer in Form eines Briefes niedergeschrieben.
Bei der Abschrift wurden zur Gliederung Überschriften eingefügt, die im Originalbrief nicht enthalten sind.

Die Familie Buddrus-Lokies:

  • die Eltern Georg Buddrus und Frau Helene, geb. Lokies

Die Kinder

  • Anita von Goldammer, geb. Buddrus
  • Herta Brüheim, geb. Buddrus
  • Elfi Petri, geb. Buddrus [1]

Icon Literatur.jpg Literatur

Quellen, Einzelnachweise

  1. Quelle: Lebenserinnerungen der Anita von Goldammer, geb. Buddrus, aus Motzischken, niedergeschrieben 1972