Erzählungen von Gerhard Krosien aus Schmelz (Kr.Memel)/Reise mit Hindernissen in die neue Heimat

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Es ist Anfang März 1945. Heute habe ich Geburtstag. Ich vollende mein zehntes Lebensjahr. Mein erster Geburtstag als Flüchtlingskind in Pommern, unserer zweiten Fluchtetappe – von Memel aus gerechnet. Ein trauriger Tag – wohl mein traurigster im Leben überhaupt - unvergesslich! Die Umwelt um mich herum befindet sich an „meinem Tag“ im Chaos. Die Rote Armee, „der Russe“, greift ungefähr fünf bis sechs Kilometer von uns entfernt an. Er stürmt nur so auf uns zu. Alles rennt, sucht sich zu retten, flüchtet! Ringsum brennt es schon überall. Geschützgrollen ganz nahe! Flugzeuge bekämpfen sich in der Luft. Viele stürzen brennend auf Felder, Scheunen und Wohnhäuser. Explosionen! Unmengen von Menschen sind auf der Flucht. Zu Fuß oder mit irgendeinem Fahrzeug drängen sie sich durch die verstopften Straßen. Bloß fort!

Da – Gott sei Dank! Ein Traktor mit einem Anhänger beladen mit Panzerfaustkästen und Munitionskisten und mit einer leichten Kanone im Schlepp! Abfahrbereit. Einige deutsche Soldaten wuchten – wohl aus Mitleid mit der hilflos und lethargisch am verschneiten Straßenrand dastehenden Familie - die Frau, uns vier kleine Kinder, unsere alte Großmutter und ihre erwachsene Tochter, Tante Elsa, auf den voll gepackten Anhänger. Es ist bitterkalt da oben! Alle erhalten von den Soldaten noch rasch eine Dose Schokakola. „Wann wird losgefahren?“, fragt Mutter den Fahrer. „In zehn Minuten geht`s pünktlich los.“, so seine hastige Antwort. Mutter rennt los. In ihre verlassene Wohnung in der Nähe, wo das bisschen Hab und Gut, soweit es aus der Heimat bis hierher gerettet werden konnte, verpackt liegen geblieben ist. Nach kurzer Zeit ist sie wieder da. Sie hat sich mit Federbetten und einigen Decken bepackt, die sie auf den Anhänger wirft. „So, nun brauchen wir wenigstens nicht zu frieren da oben. Unsere Kisten und Kartons waren von den Rischkys, unseren Wohnungsnachbarn, in der kurzen Zeit unserer Abwesenheit schon aufgebrochen worden. Sie wollen alle hierbleiben. Als halbe Polen glauben sie vom „Russen“ nichts befürchten zu müssen“, keucht sie ganz außer Atem.

Dann geht die Fahrt in aller Eile pünktlich los. Es dunkelt schon. Als Munitionstransport haben wir überall Vorfahrt und kommen - im Gegensatz zu den endlosen Trecks auf der rechten Straßenseite - zügig Richtung Westen voran. Plötzlich hält der Traktorfahrer aber ganz rechts auf der Landstraße an, löst die Kupplung der Kanone und deckt das nach oben offene Auspuffrohr des Traktors mit einem Stück Blech ab, damit kein Funke oder irgendein Lichtschein die Anwesenheit der Flüchtenden verraten könnte. Dann schleicht das Gespann mit ganz leisem Tuckern der Zugmaschine langsam die Allee hinunter. Die Kanone bleibt zurück.

Nach unendlich lang wirkender Schleichfahrt gibt der Traktorfahrer unvermittelt Vollgas, und das Gespann schießt nur so die Allee entlang! Warum tut er das? In der Nähe der Straße haben mehrere sowjetische Panzer die Fronlinie durchbrochen und versuchen, den fliehenden Trecks den Weg abzuschneiden. Das Motorengeräusch der Kriegsmaschinen ist schon deutlich zu hören; sie müssen ganz nahebei sein. Es gilt von diesen nicht bemerkt zu werden und ihnen zu entkommen. Das gelingt glücklicherweise! Nur wenige Augenblicke haben uns damals wohl von einer unfreiwilligen „Sibirienreise“ getrennt!

Wohlbehalten durchfährt das Gespann mitten in der Nacht Cammin. Die meisten Einwohner der Stadt sind schon geflüchtet. Nur hin und wieder ist eine Gestalt im Gegenlicht hinter dem einen oder anderen Fenster auszumachen. Eine Geisterstadt!

Doch für uns geht es weiter! Nach Swinemünde. Von dort bringt die Eisenbahn uns - wenn auch mit einigen unangenehmen Unterbrechungen durch Tiefflieger-beschuss - am 7. März 1945 äußerlich unversehrt in unsere neue Heimat - nach Niedersachsen.