Das Ruß-Delta

aus GenWiki, dem genealogischen Lexikon zum Mitmachen.
Zur Navigation springen Zur Suche springen
Diese Seite gehört zum Portal Memelland und wird betreut vom OFB-Team Memelland.
Bitte beachten Sie auch unsere Datensammlung aller bisher erfassten Personen aus dem Memelland
Fluss-System Ruß

Die Mündungsarme des Russ-Stroms nach der Karte von Caspar Henneberger 1576

Von Michael Jürging, Andreas Tangen und Tilmann Unbehaun (Veröffentlichung mit freundlicher Genehmigung der Autoren)

Das Memeldelta – eine Seltenheit unter den Flussmündungen Europas

Bild 1: So präsentierte sich die Stromteilung bei Russ um 1915 vom Brionischker Ufer aus [Quelle: Memellandarchiv]: Die Atmath fließt unter der Petersbrücke (1914-1944) hindurch, die Skirwiet zweigt nach links ab.

Die Memel (lit. Nemunas, russ. Neman) ist 937 km lang und gehört zu den wenigen Strömen Europas, die im Laufe ihrer Entwicklungsgeschichte ein Mündungsdelta ausgebildet haben. Das Memeldelta beginnt etwa 50 km vor dem Kurischen Haff mit der Aufteilung des Mutterstromes in den nördlichen Russ-Strom (lit. Rusnė) und die südliche Gilge (russ. Matrosovka, lit. Gilija). Die beiden teilen sich das Wasser der Memel etwa im Verhältnis 4:1, das heißt der Russ-Strom ist der bei weitem größere Arm. Auf Höhe des litauischen Städtchens Rusnė (dtsch. Russ) teilt sich dann auch der Russ-Strom, und zwar in die beiden Hauptmündungsarme Atmath (lit. Atmata) und Skirwiet (lit. Skirvytė) sowie die kleinere Pokallna (lit. Pakalnė) als dritten Arm. Die beiden Hauptmündungsarme umschließen in einem Halbkreis eine 46 km² große Deltainsel, den so genannten „Russer Wasserwinkel“. Dieser wird außer von der Pokallna noch von einer Vielzahl weiterer Gewässerarme durchzogen. In den Kartenwerken des 20. Jahrhunderts tragen 25 bis 30 dieser Arme auch einen eigenen Namen. Mit einigen davon werden wir uns im Folgenden näher beschäftigen.

Die Entwicklung eines Deltas ist ein faszinierender dynamischer Prozess. Dabei schiebt sich der Strom – hier die Memel – im Verlauf von Jahrhunderten trichterförmig in ein Küstengewässer oder ein Binnenmeer – hier also in das Kurische Haff – hinaus. Dazu transportiert er aus seinem Einzugsgebiet fortwährend Sedimente aus Kies, Sand und Lehm heran, die er an seiner Mündung ablagert. Im Wechselspiel zwischen Wasser und Land bilden sich im Laufe der Zeit immer wieder neue Mündungsarme, andere versanden, Inseln entstehen und verbinden sich allmählich mit dem Ufer zu neuem Land. Einen plastischen Eindruck von dieser Entwicklungsdynamik erhalten wir, wenn wir die aktuelle geographische Situation mit historischen Kartendarstellungen vergleichen.

Ein Pfarrer als kartografischer Pionier im ehemaligen Land der Prußen

Die älteste Karte, die das Memeldelta relativ präzise und ohne große Fehler darstellt, ist die Prussia-Karte des Pfarrers Caspar HENNEBERGER aus dem Jahr 1576. Henneberger unternahm in den Jahren 1570 bis 1576 Reisen und Arbeiten zur Vermessung Preußens. Das Ergebnis war seine in Königsberg gedruckte „Große Landtafel von Preußen“. Die Pionierleistung, die Caspar Henneberger damit vollbracht hat, kann gar nicht hoch genug eingeschätzt werden. Eckhard JÄGER (1982) hat die Entstehungsgeschichte dieser Karte im Einzelnen beschrieben.

Im Jahr 1595 ist ein Nachschnitt der Erstausgabe erschienen. Henneberger hat ihm einen umfangreichen Textband mit ausführlichen Erläuterungen beigefügt. Im Hinblick auf die Flüsse und Bäche, die in der Karte dargestellt sind, schreibt er: „Es haben mir die Fließgewässer auch nicht wenig Mühe gemacht, nicht allein wegen ihrer Quellen und Mündungen, sondern auch wegen ihrer jetzigen und früheren Namen. In den Gebieten um Insterburg und Ragnit und in etlichen anderen Ämtern, die doch mit lauter Nicht-Deutschen [wörtlich: „undeutschen“] besiedelt wurden, nachdem sie lange Zeit wüst gelegen hatten, findet man die Namen noch, und kein Bach ist zu klein, als dass er nicht seinen eigenen Namen hat. [Diese Namen] stimmen gemeinhin auch mit den alten Namen überein, obschon sie verfremdet [wörtlich: „corrupte“] ausgesprochen werden. Wo aber Deutsche wohnen (was mich doch ziemlich verwundert), kennt man oftmals die Gewässernamen gar nicht; und wenn man sie nicht in alten Handschriften und Beschreibungen auffinden würde, wären viele von den alten Namen verloren, denn die Leute achten nicht sonderlich darauf. Solange sie [von den Gewässern] den Nutzen haben und noch eine Kanne Bier dabei, sind sie schon zufrieden.“ (HENNEBERGER 1595; sprachliche Übertragung M.J.)

Was hat es mit den Gewässernamen auf sich?

Zum Verständnis der „undeutschen“ Bewohner und der „lange Zeit wüst gelegenen“ Gebiete lohnt sich ein Blick auf die Vorgeschichte. Wir orientieren uns dabei an den Veröffentlichungen von Heinrich GERLACH (1978) und Lothar KILIAN (1982).

Die ursprüngliche Bevölkerung des Westbaltikums, die verschiedenen prußischen Stämmen angehörte, war im 13. Jahrhundert nach und nach vom Deutschen Ritterorden unterworfen worden, der dort einen eigenständigen Ordensstaat errichtete. Insbesondere in den ostprußischen Gauen Schalauen und Sudauen wurden die Bewohner durch Krieg, Zwangsumsiedlungen und Pestepidemien derart dezimiert, dass Ende des 13. Jahrhunderts ein etwa hundert Kilometer breiter Grenzstreifen nahezu entvölkert war. Darüber hinaus wurden die prußische Sprache und Kultur vom Deutschen Orden unter Androhung härtester Strafen radikal unterdrückt. Der Unterlauf und das Delta der Memel gehörten vor der Ordenszeit zu Schalauen, dem nordöstlichsten Prußengau. In der Henneberger’schen Karte ist die latinisierte Bezeichnung „Schalavonia“ eingetragen. Das Gebiet war außerdem auch von den nördlich benachbarten (Alt-)Kuren kulturell beeinflusst.

Nach der weitgehenden Entvölkerung des Grenzlandes reichte der Zuzug deutschstämmiger Siedler nicht aus, um das Vakuum zu füllen, so dass viele Gebiete „lange Zeit wüst“ lagen. Erst nach und nach durften sich dort auch Zuwanderer aus den östlich benachbarten, litauischstämmigen Gebieten ansiedeln. Deren ostbaltische Sprache ist dem westbaltischen Prußisch verwandt. Vermutlich haben die Neusiedler die alten Ortsbezeichnungen von der prußischen Restbevölkerung übernommen, sie aber in ihre eigene Mundart überführt. So ließe sich jedenfalls die verfremdete („corrupte“) Aussprache der Gewässernamen erklären, die Henneberger seinerzeit aufgefallen war. Darüber hinaus mag es sein, dass auch die Unterdrückung der prußischen Sprache selbst zur verfremdeten Aussprache der überlieferten Namensbezeichnungen beigetragen hat.

Auf den Spuren der 13 Mündungsarme des Russ-Stroms

Karte 1: Ausschnittvergrößerung aus der „Landtafel“ von Caspar Henneberger, hier in der Fassung von 1595. Zur Verdeutlichung sind die Mündungsarme des Russ-Stroms farblich hervorgehoben.

Konzentrieren wir uns nun auf die Mündungsarme des Russ-Stroms und ihre kartografische Darstellung von 1576 (Karte 1). Caspar Henneberger hat hier besondere Sorgfalt walten lassen. Weil der Platz in der Karte selbst nicht ausreichte, um die Mündungsarme im Einzelnen zu beschriften, hat er am oberen Rand eine kleine Tafel mit den „Namen der Ausgeng des Stromes Russe“ platziert. Darauf sind 13 Namen aufgelistet, denen Buchstaben von „A“ bis „N“ zugeordnet sind. Mit diesen Buchstaben sind wiederum in der Karte die Mündungen der Arme bezeichnet, und zwar in einer bestimmten Reihenfolge: Der südwestlichste Arm trägt die Bezeichnung „A“, dann folgen im Uhrzeigersinn die einzelnen Mündungen bis zum nordöstlichsten Arm mit dem Buchstaben „N“.

Wir müssen allerdings genau hinsehen: Auf der Karte sind die Buchstaben „L“ und „M“ vertauscht. Für die Identifizierung der Mündungsarme ist das von Bedeutung, weil sich deren Lage erst über die Reihenfolge der Buchstaben erschließen lässt. Gerhard WILLOWEIT (1974) hat versucht, die Henneberger’schen Mündungsarme anhand von Namensähnlichkeiten in einer Karte aus dem Jahre 1932 wiederzufinden. Dabei übersah er allerdings die von Henneberger vorgegebene Reihenfolge. Dennoch konnte er immerhin sieben von 13 Mündungsarmen korrekt identifizieren:

Mündungsarme bei Caspar HENNEBERGER 1576

Identifizierung von Gerhard WILLOWEIT 1974

  • A Ackminge
  • B Skirwiet
  • C Warruss
  • D Neukuppstrom
  • F Russneit
  • I Ulm
  • N Atmath

Unzutreffend waren Willoweits Deutungen:

  • G Kalanippe = Kallnüpszoge
  • L Sclada = Skatull

Sowohl die Kallnüpszoge als auch die Skatull münden nämlich zwischen der Skirwiet und der Warruss ins Kurische Haff. Nach der Hennebergerschen Reihenfolge müssten sie sich folglich zwischen den Buchstaben „B“ und „C“ befinden, aber nicht an den Stellen „G“ und „L“. Tatsächlich waren Kallnüpszoge und Skatull Ende des 16. Jahrhunderts noch gar nicht vorhanden. Die Deltaentwicklung war zu der Zeit noch nicht so weit vorangeschritten.

Der Hauptstrom – und was von ihm blieb

Bild 2: Abendstimmung an der Pokallna bei Russ [Foto 2008: Michael Jürging]

Im Unterschied zur heutigen Situation waren Atmath und Skirwiet nach der Karte von 1576 keine Hauptmündungsarme, sondern lediglich Abzweigungen wie andere auch. Die Fließrichtung des breiten Hauptstroms führte damals geradeaus nach Nordwesten, ließ den Ort Russ am rechten Ufer liegen und mündete unter dem unveränderten(!) Namen Russe in das Kurische Haff. (Die synonyme Bezeichnung Holm ist zweifellos deutschen Ursprungs, war aber nicht von Bestand. In späteren Kartenwerken, soweit sie nicht unmittelbar auf Henneberger zurückgehen, taucht dieser Name nicht wieder auf.)

Anhand der Fließrichtung lässt sich nachweisen, dass der breite Hauptstrom Russe aus der Karte von Henneberger mit dem jetzigen Flüsschen Pokallna (lit. Pakalnė) identisch ist. Wie ist es zu dieser dramatischen Verkleinerung gekommen? Die Ursache war eine weitgehende Versandung des alten Hauptstroms im 17. und 18. Jahrhundert. In dieser Zeit verengte sich das ehemals 400 Meter breite Flussbett auf das bescheidene Maß von nur noch 20 Metern. Das zufließende Wasser suchte sich fortan seinen Weg hauptsächlich durch die Atmath.

Obwohl der alte Hauptstrom Russe also mit der heutigen Pokallna identisch ist, stimmt deren Mündung nicht mit dem Hennebergerschen Flussarm „F“ („Russe oder Holm“) überein. Letzterer entspricht vielmehr – das hatte auch Gerhard WILLOWEIT (1974) richtig erkannt – der Russneit (lit. Rusnaitė). Das bedeutet soviel wie Kleine Russe. Die Mündung der Pokallna liegt hingegen südlich benachbart zur Russneit. Sie trägt bei Henneberger den Namen Theuppe (sprich: Thä-upe; lit. upė = Fluss) mit dem Buchstaben „E“. Wir haben in historischen Karten aus der Zeit um 1800 für den Mündungsabschnitt der Pokallna die Bezeichnungen Theip-Fluss und Taup-Fluss gefunden. Hierbei handelt es sich um verballhornte – Caspar Henneberger hätte gesagt: „corrupte“ – Fassungen des alten Namens Theuppe.

Atmath und Skirwiet mausern sich zu Hauptmündungsarmen des Russ-Stroms

Bild 3: Die Atmath ist heute der größte Mündungsarm des Memeldeltas [Foto 1999: Michael Jürging]
Bild 4: Der Helenawerder in der Skirwiet-Mündung lässt sich nur mit dem Boot erreichen [Foto 2009: Michael Jürging]

Als die Atmath vom alten Hauptstrom Russe nach und nach die Rolle des größten Mündungsarmes übernahm, hatte das bedeutende Folgen für die weitere Deltaentwicklung. Denn mit der Verlagerung des Wasserabfluss wurden zugleich auch immer größere Sedimentfrachten, also Kies, Sand und Schlamm durch die Atmath transportiert und an ihrer Mündung abgelagert. Die Mündung verschob sich dadurch immer weiter nach Nordwesten. Innerhalb von drei Jahrhunderten hat sich der Flusslauf der Atmath um fast 10 km in Richtung Kurisches Haff verlängert!

Etwa Mitte des 18. Jahrhunderts setzte in der Atmath der gleiche Versandungsprozess ein wie zweihundert Jahre zuvor im alten Hauptstrom Russe. Wegen ihrer Bedeutung für die Schifffahrt und den Hochwasserabfluss wurde das Strombett der Atmath jedoch durch Baggerarbeiten freigehalten. Andernfalls wäre sie heute womöglich auch nur noch ein Mündungsarm von den bescheidenen Ausmaßen der Pokallna.

Die Skirwiet, der zweite bedeutende Mündungsarm unserer Zeit, verdankt ihre heutige Größe nicht allein der natürlichen Deltaentwicklung, sondern einem baulichen Eingriff des Menschen. Bis Mitte des 18. Jahrhunderts wurde sie in den Kartenwerken deutlich schmaler als die Atmath und darüber hinaus mit einer ungeteilten Mündung dargestellt. Danach setzte die zügige Entwicklung eines eigenen Mündungsfächers ein, gewissermaßen die Bildung eines „Deltas im Delta“.

Der Auslöser war der Bau des Dommaschkanals im Jahr 1758 bei der Siedlung Raggeningken. Er sollte eigentlich die Schifffahrt vom Russ-Strom in die Skirwiet erleichtern. Der Bau hatte jedoch Folgen, die man nicht vorhergesehen, geschweige denn beabsichtigt hatte. Darüber berichtet Jenny KOPP (1911): „Der Wasserstand der Atmath nahm ständig ab, während das Bett der Skirwiet sich erweiterte und diese sich [an ihrer Mündung] in eine große Anzahl kleiner Arme spaltete. Es blieb also nichts anderes übrig, als den unlängst gegrabenen Dommaschkanal mittels Sperrwerke zu verschließen und so die Wasserfluten wieder nach der Atmath zu lenken. Die Naturkräfte ließen sich aber nicht bezwingen und alle Versuche blieben ohne den gewünschten Erfolg! Schließlich musste man sich darauf beschränken, die Atmath mit planmäßigen und kostspieligen Regulierungswerken zu versehen und die kleinen Seitenabflüsse der Versandung zu überlassen.“

Ein Ergebnis der ungewollten Entwicklung: In der Mündung der Skirwiet bildeten sich durch die Sedimentablagerungen mehrere kleine Inseln, die im 19. Jahrhundert zum Helenawerder, dem bekannten Elchrevier, zusammenwuchsen.

Die Sklade – der Vagabund unter den Mündungsarmen

Bild 5: Der Marktplatz von Russ auf einer Postkarte um 1910 [Quelle: Memellandarchiv]. Zur Zeit der Ordensritter floss hier die Sklade entlang.

In der Henneberger’schen Karte zweigt die Sclada – mit dem Buchstaben „L“ versehen – unmittelbar hinter der Ortschaft Russ nach rechts aus dem Russ-Strom ab. Auf den Karten des 20. Jahrhunderts finden wir aber nur südlich von Kuwertshof einen Gewässerabschnitt mit dem gleich lautenden Namen Sklade. Diese Stelle ist nicht nur sechs Kilometer vom Ort Russ entfernt, sondern hat darüber hinaus zu Hennebergers Zeiten noch inmitten der Krakerorther Lank gelegen. Wie passt das zusammen?

Einen ersten Anhaltspunkt lieferte Willy ASCHMANN (1974). Er weist auf einen 300 Meter langen, schmalen Teich am nordwestlichen Ortsrand von Russ hin. Nach seiner Erinnerung wurde dieses Gewässer einschließlich der umliegenden Häuser „als Sklade oder ‚an der Sklade’ (Skloda)“ bezeichnet. Willy Aschmann vermutete deshalb, dass es sich um ein altes Teilstück der Henneberger’schen Sclada handeln könnte. Der Teich existiert auch heute noch.

Weitere Fingerzeige ergaben sich aus zwei Artikeln im ‚Grenzgarten’ und im ‚Memeler Dampfboot’. Im erstgenannten Artikel aus dem Jahr 1936 verweist der – namentlich nicht genannte – Autor darauf, dass in Hennebergers Karte die Sclada durch Russ fließt, „etwa über den heutigen Marktplatz, wie es uns auch ein Bild in der Aula der Herderschule in Heydekrug richtig zeigt“. (Welches Bild hier gemeint ist, ließ sich bisher leider nicht klären.)

In dem anderen Artikel berichtet Eva WITTE (1980) aus ihrer Jugendzeit, dass der Russer Pfarrer gelegentlich von seinem Studium der Kirchenakten erzählte: „Aus dieser mündlichen Überlieferung ist mir noch erinnerlich, dass die Ordensritter unsere Kirche am Ufer der Skladd errichteten, deren Flussbett später den Marktplatz bildete. … Auch hieß der Weg mit den schönen alten Ahorn- und Kastanienbäumen vom Pfarrhof bis zum Amtsgericht immer noch ‚Kirchendamm’.“

Nach diesen Hinweisen können wir nachvollziehen, wo die Sklade zu Hennebergers Zeiten ihren Ausgang aus dem Russ-Strom genommen hat und mit welchem Verlauf sie durch den Ort Russ geflossen ist. Die Linie verläuft exakt längs der heutigen Taikos gatvė (dtsch. Friedensstraße) in Rusnė, an der Kirche und dem Gebäude des ehemaligen Amtsgerichts vorbei in nordwestlicher Verlängerung zu dem von Willy Aschmann bezeichneten Teich am Ortsrand. Aber wie ging es von dort weiter?

Das entscheidende Bindeglied in der Beweiskette fanden wir schließlich bei unseren Recherchen im Geheimen Staatsarchiv der Stiftung Preußischer Kulturbesitz in Berlin. Dort ist ein „Situations-Plan vom Flecken Russ und der umliegenden Gegend“ aus dem Jahr 1814 archiviert. Und in diesem Plan sind – gleich zwei Skladen verzeichnet: eine alte Sklad und eine [neue] Sklad. Wir gehen davon aus, dass die alte Sklad von 1814 mit dem Mündungsarm Sclada von Henneberger identisch ist.

Die „neue“ Sklad von 1814 wurde aus Gründen, die wir nicht kennen, später noch einmal umbenannt. In den Karten des 20. Jahrhunderts finden wir sie unter der Bezeichnung Abrahamszoge (lit. Abramžiogis; lit. žiogis = Wiesenflüsschen) wieder. Die Abrahamszoge beginnt in der Nähe des Russer Friedhofs, fließt von hier nach Nordwesten zum Dumbelteich und dann weiter in Richtung Kuwertshof. Hier – und nur hier, südlich von Kuwertshof – taucht der Name Sklade (lit. Skladė) auch in den neueren Kartenwerken auf. Die heutige Mündung befindet sich am Leuchtturm von Kuwertshof (lit. Uostadvaris). Die Sklade fließt hier zusammen mit dem Ulm, der uns im nächsten Kapitel beschäftigen wird, in die Atmath.

Ulm und Co. – das Chaos entpuppt sich als Ordnung

Bild 6: Kaum zu glauben, aber wahr: Die Stilbeck war zu Hennebergers Zeiten „bequemst zu schiffen“ [Foto 2005: Michael Jürging]

Jetzt geht es noch darum, die fehlenden Mündungsarme Kalanippe, Tazaszagis, Bunduluppe und Stilbeck zu identifizieren. Wie wir gleich sehen werden, ist es sinnvoll, diese vier gemeinsam mit dem Ulm abzuhandeln.

Es sei noch einmal darauf hingewiesen, dass Henneberger in seiner Kartendarstellung die streng alphabetische Reihenfolge bei der Bezeichnung der Mündungsarme in einem Fall unterbrochen hat, indem er die Buchstaben „L“ und „M“ getauscht hat. Das bedeutet, dass die gesuchte Stilbeck („M“) westlich und nicht östlich von der Sklade („L“) verlaufen sein muss.

Wir kommen der Lösung durch das Kartenwerk von Friedrich Leopold von SCHROETTER aus den Jahren 1796-1802 wesentlich näher. Die Karten sind in der Berliner Staatsbibliothek archiviert. Darin sind Bundulup-Fluss und Stilbeck-Fluss als namentlich bezeichnete Abzweigungen aus dem Ulm-Fluss dargestellt. Dass sie hier nicht bzw. nicht mehr – wie bei Caspar Hennberger – in die Krakerorther Lank münden, sondern zur Nordspitze des Dumbelteichs fließen, ist einmal mehr das Ergebnis der fortgeschrittenen Deltaentwicklung.

Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang, dass die Stilbeck im 16. Jahrhundert für die Schifffahrt offenbar noch von großer Bedeutung war. Caspar Henneberger beschreibt sie als „bequemst zu schiffen“ (1576) und erläutert: „... wenn die Schiff[e] nicht durch die Gilg[e] herab oder hinauf können, muss man durch die Stilbeck kommen.“ (1595). Folglich ist die Stilbeck seinerzeit nicht nur für das Delta des Russ-Stroms, sondern für das gesamte Memeldelta ein wichtiger Wasserweg gewesen. In den neueren Kartenwerken ist der Verlauf der Stilbeck noch nachvollziehbar, allerdings nicht mehr, wie in der Schroetter’schen Karte, mit einer Namensbezeichnung.

Vertiefen wir uns wieder in die Schroetter-Karte: Die noch gesuchten Namen Kalanippe und Tazaszagis tauchen darin nirgends auf. Aber genau gegenüber vom Bundulup-Fluss zweigt aus dem Ulm-Fluss nach links der Stadszogisch-Fluss ab. In den Kartenwerken des 20. Jahrhunderts sind diese beiden Abzweigungen unter den Bezeichnungen Bundlupp (lit. Bundulupė) und Stadszoge (lit. Statžogė) wiederzufinden. Da die Stadszoge als Name so oder so ähnlich im Verzeichnis von Caspar Henneberger nicht auftaucht, stellt sich die Frage, welchem seiner Mündungsarme sie entsprechen mag? Zur Wahl stehen noch die Kalanippe mit dem Buchstaben „G“ und der Tazaszagis mit dem Buchstaben „H“. Von der namentlichen Bezeichnung her kommt eher Letzterer in Betracht. Denn die Endungen „-szagis“ und „-szoge“ sind aus dem litauischen „-žogis“ (männlich) bzw. „-žogė“ (weiblich) für „Wiesenflüsschen“ abgleitet Aber noch ein anderer Grund spricht für diese Lösung, nämlich die Reihenfolge der Mündungsarme bei Henneberger: Bei ihm mündet links benachbart zum Ulm der Tazaszagis ins Kurische Haff. In den neueren Karten finden wir an derselben Position die Stadszoge.

Schlussendlich bleibt noch die Kalanippe übrig. Nach Caspar Henneberger befand sie sich zwischen der Russe (heute Russneit) und der Tazaszagis (heute Stadszoge). Bei der Recherche von historischen Karten haben wir bisher keinen Mündungsarm namens Kalanippe finden können. Um sie zu identifizieren, müssen wir uns mit den Erkenntnissen der Deltaforschung etwas näher vertraut machen. Im Prinzip gibt es zwei Varianten, wie Flussverzweigungen im Delta entstehen:

  • 1. Mündungsverzweigungen

Der Strom lagert an seiner Mündung die mitgeführten Sedimente ab. Dadurch bilden sich Inseln, um die der Strom herum fließen muss. So gabelt er sich in mehrere Mündungsarme auf. Ein typisches Beispiel für diese Variante ist die Mündung der Skirwiet, wie sie sich seit Mitte des 18. Jahrhunderts entwickelt hat.

  • 2. Dammflussverzweigungen

Der Strom lagert einen Teil der mitgeführten Sedimente schon vor seiner Mündung zu beiden Seiten des Flussbettes ab. Dadurch entstehen kleine Uferdämme, deren Oberkanten allerdings nicht so regelmäßig geformt sind wie bei Deichbauten. Wenn nun eine zeitweilige Verstopfung des Flussbettes eintritt – zum Beispiel bei Eisgang oder Hochwasser – staut sich das Wasser zunächst hinter der Barriere auf. Schließlich fließt es an den etwas flacheren Stellen über die Uferdämme und bahnt sich dahinter seinen Weg. Bleibt die Barriere im Flussbett längere Zeit bestehen, können sich solche „Notabläufe“ zu neuen Gewässerbetten erweitern. Für die Dammflussverzweigungen ist aus physikalischen Gründen charakteristisch, dass sich stets nach beiden (!) Seiten ein Ablauf bildet und annähernd rechtwinklig vom Ausgangsgewässer wegstrebt. Es handelt sich also gewissermaßen um ein Zwillingsphänomen. Bundlupp und Tazaszagis/Stadszoge sind ein typisches Produkt der Dammflussverzweigung, d.h. sie sind durch eine zeitweilige Verstopfung des Ulm entstanden.

Die Schroetter’sche Karte von 1796/1802 belegt, dass die Stilbeck ebenfalls mit dem charakteristischen rechten Winkel vom Ulm abgezweigt ist. Wenn man sich das Muster der Dammflussverzweigung vergegenwärtigt, lässt sich bei Schroetter auch ihr linker Zwilling – als sehr feine Linie – identifizieren. Er war Ende des 18. Jahrhunderts bereits weitgehend verlandet und nur noch als schmaler Graben vorhanden. An gleicher Stelle verläuft auch heute noch ein Entwässerungsgraben. Er geht vermutlich auf den ehemaligen Mündungsarm Kalanippe zurück, den linken Zwilling der Stilbeck.

Zurück zum Gesamtbild

Karte 2: Farbige Übertragung der Henneberger’schen Mündungsarme auf eine Kartengrundlage von 1899.

Sehen wir uns die Ergebnisse unserer Recherchen noch einmal im Überblick an, dann erhalten wir das Bild der Karte 2. Die blaue Farbe zeigt, wo die Mündungsarme aus der Karte von Caspar Henneberger 1576 verlaufen sind. Lediglich der Mündungsarm „A“, die Ackmena, lässt sich auf dem Kartenausschnitt nicht unterbringen. Denn anders als in der Karte von 1576 dargestellt, ist sie nicht gegenüber von der Atmath aus dem Russ-Strom abgezweigt, sondern schon drei Kilometer davor. Zu Hennebergers Zeiten war ihr Abzweig bereits „verfüllet“, also versandet. Die kleine Ungenauigkeit in der Henneberger’schen Darstellung schmälert nicht das große Verdienst dieses Mannes. Wir verdanken ihm ein Kartenwerk von wahrhaft historischer Bedeutung.

Literatur

  • ANONYM (1936): Hennebergers Bericht über unsere Heimat 1595. – Der Grenzgarten, Beilage des Memeler Dampfboots, Nr. 4 vom 30. April 1936.
  • ASCHMANN, W. (1974): Auf den Spuren der Sklade. – Leserbrief im Memeler Dampfboot, Nr. 2/1974.
  • GERLACH, H. (1978): Nur der Name blieb. – Düsseldorf und Wien.
  • HENNEBERGER, C. (1595): Ercleru[n]g der Preüssischen grössern Landtaffel oder Mappen. – Königsberg.
  • JÄGER, E. (1982): Prussia-Karten 1542-1810. – Schriften des Nordostdeutschen Kulturwerks Lüneburg, Weißenhorn.
  • KILIAN, L. (1982): Zu Herkunft und Sprache der Prußen. – 2. erw. Aufl., Habelt Sachbuch, Bd. 1, Bonn.
  • KOPP, J. (1911): Der Memelstrom. – Mitteilungen der Litauischen literarischen Gesellschaft, Bd. 5 (25.-30. Heft), S. 582-608.
  • WILLOWEIT, G. (1974): Die Mündungsarme des Rußstromes. – Memeler Dampfboot, Nr. 1/1974, S. 4-5.
  • WITTE, E. (1980): Wo Charlotte Keyser zu Hause war. – Memeler Dampfboot, Nr. 9/1980, S. 134.