Das Kinderparadies

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<<<Erzählungen aus Schmelz

Das Kinderparadies

Von Gerhard Krosien

Ach, war sie für uns Bowkes ein Kinderparadies - unsere Kiesgrube! Ein lang gestrecktes, grünes Tal, direkt hinter unserem Kirschgarten. Schon lange war die Förderung des für den Haus- und Straßenbau so begehrten Kieses und Sandes eingestellt worden - weil nicht mehr lohnend. Und so hatten sich an ihrem Westende eine Müllkippe, dahinter einige Gemüse- und Kartoffelgärten, dann ein bewachsenes langes Tal mit einigen Tümpeln und an ihrem Ostende eine steile, gelbe Sandmauer mit Feldern in ihrer Fortsetzung gebildet. Vor der gelben Abbruchwand wurde einst ein verendetes Pferd begraben - für uns Kinder eine bleibende, aufregende Erinnerung. In der Wand selbst nisteten Jahr für Jahr zahllose Uferschwalben.
Für viele Kinder von Schmelz war die alte Kiesgrube ein toller Treffpunkt. Zu jeder Jahreszeit, versteht sich!
Im Frühjahr wurden in den Tümpeln massenweise Kaulquappen gefangen, in wassergefüllte Marmeladeneimer verfrachtet und in eine nahe gelegene kleinere Kiesgrube „umgesiedelt“. Das war unsere Art „Bevölkerungsausgleich“ unter Fröschen.
Während des Sommers ermöglichte die Kiesgrube zahllose Räuber- und Gendarmspiele, unvergessliches Brausepulver-Lecken aus nicht eben sauberer Innenhandfläche der Bowkes oder nur Müßiggang in vertrautem Kreise von Artgenossen.
Am interessantesten war es im Herbst: Da brannten wir mehrere Krautfeuer an, und gebackene Kartoffeln mit verkohlter Pelle wurden aus der Asche gerollt. Sie schmeckten herrlich! Wir Kinder waren im Gesicht geschwärzt - und rochen kräftig nach Rauch. Wir lagen ungestört im Gras der Kiesgrube und hielten an langen Schnüren die tollsten selbst gebastelten Drachen, die oberhalb der Kiesgrube vom heftigen Wind in munterem Flug hin- und hergezerrt wurden. Von Zeit zu Zeit wurden die Schnur entlang als besonderer Gag „Briefchen“ zum Drachen hinaufgeschickt. Zwischendurch sammelten einige von uns große Sträuße Wermut, die unsere Großmütter zu Hause unterm Dach oder an sonst luftiger Stelle aufhängten und trockneten, um sie später gegen bestimmte Krankheiten zu Tee zu verarbeiten.
Nicht selten kam der verrückte Schafsbock des Bauern Kaitinnis von der anderen Seite der Kiesgrube unverhofft angerannt und erwischte einen von uns beim Davonlaufen mit einem Rammstoß. Dann gab es für die anderen nur eine Devise: Nichts wie weg - durch die lange vorher gescharrten Löcher hindurch in unseren Kirschgarten an der Nordseite der Kiesgrube und dort abwarten, bis die Luft wieder rein war!
Im Winter war - wie nicht anders zu erwarten - der „Alpinsport" Trumpf in unserer Kiesgrube. Die Hänge waren geradezu ideal für den Ski-Weitsprung! Also wurden an mehreren Stellen Sprungschanzen gebaut - natürlich von unterschiedlichem Schwierigkeitsgrad. Und dann ging es hinunter! Einige von uns auf richtigen Schiern, die geschickte Väter oder Großväter „gezimmert“ hatten. Andere hatten einfache Tonnenbretter untergeschnallt. Eines hatten beide Ski-Arten gemeinsam: Die Bindung. Sie bestand aus einem Lederriemen, der an jeder Seite des „Skis“ festgenagelt war. Durch den wurde der Fuß geschoben. Mit der Abfahrt klappte es - fast - immer! Nur bei der Landung waren die „Bretter“ oft weg, sodass das Aufsetzen häufig recht unsanft ausfiel. Aber, was machte uns Bowkes das schon? Die „Rekorde“ purzelten nur so! Und gewachst wurde mit jeder Art von Talgkerzen.
Wer lieber Schlittschuh laufen wollte, tat das auf den zugefrorenen Tümpeln in der Kiesgrube. Andere machten es den „großen Eisseglern“ nach. Sie besorgten sich ein genügend langes und breites Brett, nagelten zwei passende Dachlatten darunter und schraubten ihre Schlittschuhe wie Kufen daran fest. Dann brauchte man sich nur noch darauf zu setzen und mit zwei am unteren Ende nagelbewehrten Stöcken abzustoßen. Und schon raste man über die Eisfläche! Ganz Faule legten sich eine T-förmige Lattenkonstruktion zu und befestigten einen Jutesack an der Querstange. Und fertig war ein Segel! Wenn der Wind gut von hinten blies, wurde es gehisst, und man wurde nachhaltig nach vorne gedrückt. Auf jeden Fall: Das alles hat uns Schmelzer Bowkes und Marjellens Jahr für Jahr riesigen Spaß gemacht!
Unsere Kiesgrube - ein Paradies der Kindheit!