Borgen

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<<<Erzählungen aus Schmelz


Von Gerhard Krosien


Als kleiner Bowke habe ich es oft erlebt: Eine Nachbarin oder ein Kind aus der Nachbarschaft kam mit einer Tasse oder mit einem anderen Behälter zu Mutter und "borgte" sich dies oder das. Manchmal musste aber auch ich "borgen" gehen. Niemand fand etwas Anstößiges am "Borgen". Weder die Nachbarin, noch Mutter, noch ich! Jeder auf Schmelz kannte doch die traditionellen „Borgeregeln“!

Was bedeutete "Borgen" damals in Schmelz? Irgend etwas, das man gerade brauchte, war gar nicht oder nicht in der benötigten Menge zur Hand. Damit hatte man überhaupt nicht gerechnet! Dann "borgte" man es sich einfach bei den Nachbarn. Der nächste Kaufmannsladen, bei dem man das Benötigte wohl bekommen hätte, war meist weit weg. Es gab ja auch nicht gerade viele Geschäfte zur Auswahl. Oder der Laden hatte genau jetzt, wo er gebraucht wurde, Mittagspause. Natürlich wurde das "Geborgte" so rasch wie möglich in gleicher Menge und Güte zurückgegeben. Man wollte doch irgendwann mal wieder etwas "borgen" können! Das war Ehrensache!

Manchmal hatte das "Borgen" aber auch einen ganz speziellen Grund. Hatte mal ein Kind plötzlich und unerwartet eine Erkältung erwischt oder wurde es von plötzlichem Husten oder von heftigen Halsschmerzen geplagt und wusste man, wo schnell zum Beispiel Bienenhonig in der Nachbarschaft zu bekommen war, so lief man kurzerhand dort hin, um sich eine kleine Portion dieses hoch geschätzten Heilmittels für den akuten Fall zu "borgen". Wenn der "Borgende" von dem eigentlichen Grund des Borgens erfuhr - und das tat er wohl meistens - und wenn er dazu noch ein mildes Herz hatte, sagte er sogleich spontan, dass er den "geborgten" Bienenhonig auf keinen Fall zurück haben wolle. Schließlich ging es für ihn ja um das Wohl eines Schmelzer Mitbürgers!

Schon lange habe ich solche "Borgerei" nicht mehr erlebt. Haben die Menschen heute immer alles, was sie gerade benötigen? Zum Beispiel im Kühl- oder Gefrierschrank? Oder ist der Brauch des "Borgens" inzwischen ganz allgemein aus der Mode gekommen? Eigentlich wäre das schade. Denn irgendwie war "Borgen" so ein typischer Fall von Pioniergeist, der zwischenmenschliche Beziehungen herstellte und festigte. Oder gibt es noch andere Gründe für das Verschwinden des "Borgens"? Na ja: Andere Zeiten, andere Sitten! Die Schmelzer leben jetzt ja auch überall in der weiten Welt verstreut, nicht mehr in ihrem seit Generationen mit traditionellem Brauchtum gewachsenen Gemeinwesen!

Mit freundlicher Genehmigung von Gerhard Krosien